[2004-08-06] 
 

LOTTES TAG


Die Vögel hingen in den Ästen wie nasse braune Herbstblätter. Die Schatten auf den Nebeln wuchsen hoch hinauf. Drinnen im Stall hockten die Nesseln und griepten sich an den Bohlen entlang.
Ich weiß nicht, sagte sie und deutete auf ihren Nachbarn, den sie mit ihrem Zeigefinger in der Luft erfand, solche Tage sollte es gar nicht geben. Sie sind für die Katz. Nein. Sie berichtigte sich. Mehr so für mich und für dich und für uns, aber wir wollen es ja nicht wissen. Wir stromern vor uns hin, murmelte sie undeutlich und blickte auf ihre zitternden Hände. Gestromert, ja. Das bin ich auch. Aber es ist lange her. Der Strom hilft nicht mehr. Der Fluss ist in eine andere Richtung geschwoben.
Kinder, rief sie, als der Gong ertönte, kommt her. Es gibt etwas zu essen. Aber sie wusste nicht mehr was Essen bedeutete. Manchmal schmierten ihr die Leute mit dem Löffel am Mund entlang. Und vorher sagten sie Guten Appetit und nachher Mahlzeit. Manchmal zweifelte sie aber, ob es nicht umgekehrt war. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Es war ihr egal. Sie hatte sich mit sich selbst verbündet.
Und nachher kamen die Klatschwäscher. Peng, eine Ohrfeige für die linke Wange. Peng, eine für die rechte. Und schon wieder dieses Gewuschel um ihren Mund herum. Warum interessierten sich alle immerzu so sehr für ihren Mund?
Während das Wasser über ihre Wangen träufelte, unterhielten sich die Handlanger miteinander. Fetzen von Wortgestöber ... unvollziehbar ... stumpf und nicht bunt.
Sie hatten die Farben weggewaschen. Sie mochten die Farben nicht.

Lotte seufzte ein wenig. Weit hinten in ihrer Erinnerung glimmerte ein Hauch von einem bunten Regenbogen, aber die Nebelwolken setzten sich davor und wischten sie weg. Regenbogen, Regenbogen gurgelte sie; es sollte ein Gesang sein, doch die Wegelagerer wollten nicht mitsingen und grinsten ihr ins Gesicht.
Sie fühlte diese Augen, die direkt in ihre Augen hineinglotzten. Wer erlaubt so etwas eigentlich, dachte sie. Meine Augen sind doch empfindlich, und diese glupschigen fetttriefenden Suppenhühner-Augen würden sie blind machen.
Aber der Gedanke floh. So wie alle Gedanken in diesen Tagen nicht mehr bei ihr bleiben wollten. Sie war nicht traurig deswegen. Die Fluchtfetzen sollte der Nebel verschlingen. Vielleicht schmeckte ihm ja die nutzlose Brut.
Sie schüttelte sich und fegte mit Eifer die Krümel von ihrem Kleid. Das Kleid musste sauber sein. Ein Hochzeitskleid. Weiß. Nur ein paar Petersilienspuren vom Mittagessen. Grün als Schmuck. Das wusste sie noch: Das Auge isst mit. Suppen-Petersilien-Grün für das Auge. Besorgt wischte sie durch ihr Gesicht. Das grüne Zeug wollte sie dort nicht haben. Es würde ihr die Sicht versperren. Sie kratzte es weg und wischte und kratzte unwillig und ungeduldig, bis die fetttriefenden Augenwärter ihre Hände in den weißen Ärmeln ihres Kleides versteckten, wo sie sie nicht wiederfinden konnte.
Meine Augen laufen aus, dachte sie. Es ist so nass auf meiner Haut.