[2004-07-06] 
 

ANNÄHERUNG


Hein starrte auf den Gully-Deckel und versuchte sich nicht zu bewegen, denn sonst würde sein Kopf abfallen und in den Abfluss rollen. Das Wasser gurgelte in die schwarze Ungewissheit.
Ich bin dir aus der Feder geflossen, dachte Hein, ich habe gebremst, aber die Fahrt war zu schnell, und auf der Straße lag dieses glitschige Zeug, das sie beim Fleischer aus der Wanne kippen, wenn die Sau abgekocht ist. Mein Fahrzeug ist gegen die Betonwand geknallt, die sich nicht biegen lassen wollte und sich eine neue Form zurecht knautschte. Wir wurden nicht gefragt. Die Feder jedoch hing noch in deinem Haar, fein verwoben wie in einem Nest  und schaute mich verwundert an.  

Hein versuchte sich in einem Gedanken. Worauf warte ich, überlegte er und sah, wie seine Frage in der Tiefe verschwand. Vorsichtig schüttelte er den Kopf. Es war mehr eine Rechts-Links-Seitwärts-Bewegung, denn vor dem Schütteln hatte Hein Angst. Als er merkte, dass sein Kopf weiterhin mit seinem Körper  verwachsen blieb, pfiff er seine Atemluft zwischen den Lippen hinaus wie durch die Tülle eines Wasserkessels. Noch mal Glück gehabt, Hein?
Glück haben die anderen. Sie basteln es sich zu Weihnachten und hängen es als Kalender an die Wand. Dann reißen sie es Stück für Stück ab, bis wieder alles leer ist und sie von vorne anfangen. Sie nennen es Glück, Hein. Aber es ist nicht dein Glück. Du würdest ein anderes Wort dafür finden, wenn du noch denken könntest. Aber du hast das Denken eingestellt, denn du weißt die Antwort jetzt.  

Hände grapschten an ihm herum, von denen er nicht wusste, woher sie kamen. Er machte sich steif, damit sie ihm nicht  Arme und Füße und Beine abknicken sollten. Die Finger verschränkte er zum Schwur, und seine Zehen krallten sich vergebens in sein Schuhwerk. Sie hoben ihn hoch und schnürten ihn flach auf’s Kreuz, das so hart war wie der Beton.
Er nahm Stimmengerassel wahr, das um ihn herum floss wie die Wellen im Windkanal. Ein schönes Bild. Hein hatte es im Physik-Unterricht gesehen und in der Werbung. Aber mit einem kleinen Nasenzucken wischte er das Bild beiseite. Zu laut. Einfach zu laut. Hagelkörner-Stimmen. Hinten am Zungengrund würgte es ihn. Wer schreit, hat Unrecht, und mir wird schlecht davon. Hein wollte nicht, dass sie schrieen und dass ihm davon schlecht würde, also stellte er das Atmen erneut ein, und die  Schreie verloren sich als sanftes Mäuse-Plätschern. Das mochte Hein lieber, denn auf dem leisen Singsang-Hauch hatte seine Feder noch Platz. Sie war so leicht und so hell und auf dem richtigen Pfad, den er nun geradeaus und offen mit ihr gehen wollte. Du.
Auf dem zweiten Pfad habe ich dich entdeckt, und du hast ihn golden gemacht und mir die Richtung gezeigt. Du hast mich herausgeschält aus meiner Hülle und hineingewoben in dein Haar. Das soll nun mein Platz sein, ich bin gerne dort.