[2005-11-24] 
 

Krankheiten, zeitgemäß


Jedes Mal, wenn ich meine Nachbarin in ihrer Küche beobachte, ------------------------ öffnet
sie eine Weinflasche. Sie hat Routine. Das sieht der entfernte Beobachter. Die Bewegungen sind nicht zittrig und zögernd. Nein. Sie greift beherzt die Flasche, setzt den Öffner obenauf, dreht gleichmäßig und hat nach wenigen Sekunden den Korken von der Flasche befreit oder umgekehrt. Dann setzt sie die Flasche an ihren Mund, hält den Kopf schräg nach hinten und  nimmt einen langen Schluck. Ich wundere mich, wie lange sie in dieser Stellung bleibt, versäume aber, auf die Uhr zu schauen, um diesem Schluck-Marathon eine zeitliche Dimension zu geben. Das Ritual ist nicht zu Ende, wenn sie die Flasche endlich wieder absetzt. Dann schnäuzt sie sich nämlich, für den Beobachter jedes Mal wieder mit abenteuerlich vorhersehbarer Gleichmäßigkeit, weil der Wein ihr wieder aus der Nase herauskommt.
Wein-Bulimie, sagt mein Arzt. Unstillbar.  



Jedes Mal, wenn ich meinen Nachbarn in seinem Schlafzimmer beobachte, ------------ öffnet
er Knöpfe oder Reißverschlüsse an Kleidungsstücken, die nicht seine eigenen sind. Er hat Routine. Das sieht der entfernte Beobachter. Die Bewegungen sind nicht zittrig und zögernd. Nein. Er greift beherzt dem Träger oder der Trägerin – er ist nicht wählerisch, was das Geschlecht angeht, – an die Wäsche und befreit sie von dem dazu gehörigen Körper oder umgekehrt. Dann setzt er keine Flasche, aber etwas Ähnliches, an einen Mund, der nicht wirklich ein Mund ist, bis ich die Flasche nicht mehr sehen kann. Ich wundere mich, wie lange er in dieser Stellung bleibt, versäume aber, auf die Uhr zu schauen, um diesem Versenk-Spiel eine zeitliche Dimension zu geben. Das Ritual ist nicht zu Ende, wenn die Flasche, -in etwas veränderter Form-wenn auch wichtelmäßig geschrumpft, endlich wieder auftaucht. Dann packt er nämlich mit abenteuerlich vorhersehbarer Gleichmäßigkeit Flasche, sowie und Männlein oder Weiblein wieder ein, um sie gleich danach aus der Wohnung hinauszukomplimentieren, wo am Hintereingang schon die nächsten Kleidungsstücke auf ihre Befreiung warten.
Sexuelle Inkontinenz, sagt mein Arzt. Unhaltbar.  

 
Jedes Mal, wenn ich meine Nachbarn in ihrem Wohnzimmer beobachte,----------------öffnet
sie die Schranktür und holt eine Tüte mit Chips heraus, die sie in ein Schälchen leert, das auf dem Couchtisch steht. Sie hat Routine. Das sieht der entfernte Beobachter. Die Bewegungen sind nicht zittrig und zögernd. Nein. Beherzt und mit schwungvoller Hand schüttet sie die Chips in das Gefäß, knüllt die Tüte zusammen und geht aus dem Zimmer. In der Tür begegnet sie ihm, der sogleich die Fernbedienung des Fernsehers in die Hand nimmt und sich auf das Sofa fallen lässt. Er greift in die Chips-Schale, stopft sich den Mund und kaut mit vollen Backen. Ich wundere mich, wie lang er in dieser Stellung bleibt, versäume aber, auf die Uhr zu schauen, um diesem Kau-Marathon eine zeitliche Dimension zu geben. Das Ritual ist nicht zu Ende, wenn er den Mund wieder leer hat. Dann greift er nämlich wieder mit abenteuerlich vorhersehbarer Gleichmäßigkeit in die Schale, während die Nachbarin mit ebenso abenteuerlich vorhersehbarer Gleichmäßigkeit erneut ins Zimmer tritt und eine Bierflasche auf den Tisch stellt. Diese setzt der Nachbar an seinen Mund, hält den Kopf schräg nach hinten, nimmt einen langen Schluck und befreit die Flasche von ihrem Inhalt. Er streicht sich über den Bauch, zappt mit der Fernbedienung durch die Fernsehprogramme und schläft darüber ein. Inzwischen hat sich die Nachbarin von ihrer Kleidung befreit und kommt im Schlafanzug ins Zimmer zurück. Sie nimmt dem Nachbarn die Fernbedienung aus der Hand, macht den Fernseher aus und geht schlafen.
Eheliche Narkolepsie, sagt mein Arzt. Unheilbar.
Gute Nacht.