[2004-06-09]
Versicherungsfall
Es war wahrscheinlich eine Unachtsamkeit des behandelnden Arztes, der jung, unerfahren und durch lange Nachtschichten völlig übermüdet war. Als er nach meinem Ski-Unfall mein Rückgrat eingipste, hatte er vergessen, mir vorher die Kleider auszuziehen. Das hatte fatale Folgen. Der Bügel von meinem Büstenhalter wuchs durch den Druck allmählich in die Haut ein. Die Nähte der Hosen und des T-Shirts bildeten neue Furchen auf meinem Körper, die er nie gekannt hatte. Nach und nach verrotteten die Klamotten und begannen zu stinken. Erst ganz langsam. Die Ärzte weigerten sich, den Gestank wahrzunehmen, denn der kam in ihren Lehrbüchern nicht vor.
Es war anfangs nur ein merkwürdiges Gefühl, wie die Kleidermatsche zwischen dem Gips und meiner Haut hin und herrutschte. Sie versuchte einen Ausweg zu finden, aber der Gips war gut verschlossen. Da hatte der Arzt wirklich gute Arbeit geleistet.
Weil ich zu unruhig wurde, gaben sie mir Beruhigungsmittel, damit mein Rückgrat nicht durch innere Spannungen unter Druck geraten sollte. Derweil hatte ich das Gefühl, dass die Matsche lebendig wurde. Waren es Maden, die sich im Schweiß und dem Kleiderbrei wohl fühlten und nun Tiraden von Madengeschwadern entwickelten, die unter mir und auf mir explodierten?
Es war sehr warm geworden unter meiner Gipsdecke. Wenn die Ärzte kamen, freuten sie sich darüber, wenn ich ihnen bestätigte, dass mir nicht kalt war. Dann nickten sie sich bestätigend zu. Sie hatten einen guten Job gemacht.
Ein komisches Brennen löste das Matschgefühl nach und nach ab. So ungefähr wie wenn du in Brennnesseln fällst. Ich stellte mir meine rote Haut vor. Aber vielleicht war sie von dem Madensaft ja schon weiß geworden, und das Brennen kam daher, dass die Viecher angefangen hatten, an mir rumzuknabbern? Es schien so, denn allmählich fing es an, weh zu tun unter meiner Decke. Richtige Schmerzen, die auf meinem Körper hin- und herkrochen und sich bald auch in meinem Gehirn festsetzten.
Beruhigen Sie sich, sagten die Ärzte mitfühlend. Es dauert nicht mehr lang, dann können wir den Gips abnehmen. Sie sind ja so tapfer. Dann erhöhten sie die Menge der Schmerzmittel.
Der Gestank war schlimmer geworden, aber die Desinfektionsmittel im Zimmer überlagerten die Ausdünstungen. Und durch die Betäubungsmittel waren wahrscheinlich auch meine Riechsensoren in Mitleidenschaft gezogen. Irgendwie fand ich ihn gar nicht mehr so schlimm.
Allmählich verfiel ich ins Delirium. Deshalb war es mir auch egal, als ich spürte, wie die Gipsschale an meine Knochen grapschte. Wahrscheinlich hatten die stinkenden Kleider-Matsch-Maden mein Fleisch längst aufgefressen und meine Knochen säuberlich freigelegt. Was passiert eigentlich mit der Matsche, überlegte ich. Wird sie verfaulen, verrotten, sich auflösen, vertrocknen? Und wie lange dauert so etwas?
Tief in meinem Unterbewusstsein stellte ich diese Frage, aber ich wusste nicht, wer mir antworten sollte. Es verstand mich ja keiner mehr. Mein Sprachzentrum war durch die unglaublich hohen Dosen von Medikamenten gelähmt. Ich konnte nur noch lallen.
Und dann kam der Tag, wo die Maden sich zeigten. Sie hatten einen Gang in den Gips gegraben, krabbelten nun am oberen Rand heraus und überschwemmten mein Gesicht. Ich konnte sie förmlich schmatzen hören.
Die Ärzte standen ratlos um mein Bett. Die Patientin hat durch das lange Liegen ein Hautproblem entwickelt. Die Gesichtshaut ist so schwammig und feucht.
Als die Maden begannen, meine Augen anzufressen, machten sich die Ärzte ernste Sorgen. Der Genesungsprozess will einfach nicht recht vorwärts schreiten. Vorsichtig fuhren sie mir mit einem Spatel durchs Gesicht, worauf sich die Gesichtshaut löste, was sie verblüffte. Transplantation hörte ich. Ich hörte nicht mehr wirklich, aber es kam mir so vor, als hätten sie dieses Wort gesagt.
Sie wollten mich in der Gipsschale auf den Operationstisch heben. Aber nun zeigte sich das fatale Werk der Maden endgültig. Mein Gefängnis hatte längst seine Passgenauigkeit verloren. Es war zu groß für das Knochengerüst, das die Maden übrig gelassen hatten. Es machte flutsch, und ich rutschte aus der Gipsumhüllung heraus wie ein Baby aus dem Geburtskanal. Aber schreien konnte ich nicht mehr, als sie mich mit spitzen Fingern anfassten und meinen Exitus konstatierten.
Die Versicherung bezahlte den Schaden für die verrotteten Kleider vollständig.