[2005-06-21]
Das Lied der Wasseruhr
Und plötzlich fehlte mir ein Lied und meine Wasseruhr. Ich ging sie suchen. Nicht beide. Nur die Wasseruhr, denn das Lied vermisste ich nicht.
Unter der Brücke im nassen Gras lag sie und guckte mich verwundert an. Jemand hatte sie hinuntergeschmissen, um sie zu zerschmettern, aber sie hatte keinen Kratzer, noch nicht einmal einen kleinen. Doch sie schaute mich an, als ob sie sagen wollte: Warum hast du das getan? Ich konnte ihr keine Antwort geben, denn ich wusste es ja selber nicht.
Mit dieser Schuld muss ich nun leben bis an mein Ende.
Schwer trägt sie, die Schuld, an mir und meinem Vergehen. Sie hat sich geschultert und gepackt als schweres Reisegepäck und lastet.
Das Lied trällerte derweil duftig durch die Luft. Ein leichtes Stückchen fiedelte es und ein knuspriges Hörnchen blies es, so dass die Schmetterlinge Purzelbäume schlugen und in ihrer Buntheit die Welt mit blauen Flügeln bedachten. Doch die Welt ist blind, wie jeder weiß, und Augen haben nur Wasseruhren unter Seufzer-Brücken. Dort, wo Sehnsüchte aufeinander prallen und zusammenwachsen und Lieder sich nur niederlassen, wenn sie in der Ruhe neu geschrieben werden.
Meine Augen schenke ich dir und meinen Mund. Es entfährt ihm kein Lied, und zu sehen habe ich nicht gelernt. Geliehenes gib dorthin zurück, wo Talente vermehrt werden.
Mein Rücken ist rund und verfolgt nun die Spur, der ich nie folgen wollte.
Erstveröffentlichung 9.6.2005