[2004-12-24] 
 

Bei Strafe des Todes


Vierzehn, murmelte sie, als sie durch die weihnachtlich geschmückten Straßen ging, vierzehn müsste ich erreichen. Das wäre ein Glück. Ein Weihnachtswunschglück.
"Du darfst dir nichts wünschen", sagte die Stimme in ihrem Kopf.
Sie schüttelte sich leicht und hob das Kinn in einer Andeutung von Trotz und Widerspruch. Nur vierzehn, oder dreizehn. Das ist nicht wirklich gewünscht. Das kostet ja nichts.
Die Stimme im Kopf wiederholte nachdrücklich: "Du darfst dir nichts wünschen".
Vierzehn ist nicht zu viel. Und es ist kein richtiger Wunsch! Sie versuchte, der Stimme energisch zu begegnen, fühlte aber, wie in ihrem Nacken gleichzeitig ein wenig Angst empor kroch. Nur einmal, dachte sie leise für sich, nur einmal soll ein Wunsch für mich in Erfüllung gehen. Er ist ja so klein, und er kostet doch nichts. Ich denke ihn mir gar nicht. Ich fühle ihn nur. Und vierzehn ist doch nur eine Zahl. Es können auch elf, oder acht oder neun sein.
Unbewusst zog sie ihre Schultern hoch, also wollte sie ihren Hals zwischen den Schulterblättern verstecken, um einen erwarteten Schlag abzudämpfen.
"Du darfst dir nichts wünschen!" Die Stimme in ihrem Kopf wurde lauter und nahm mehr Platz ein als zuvor. "Es ist verboten, sich etwas zu wünschen!"
Sie zuckte zusammen. Ja. Es war verboten, sich etwas zu wünschen. Wünschen ist wie Wollen, und Wollen ist wie Fordern, und niemand hatte ihr erlaubt, etwas zu wünschfordern. Keine vierzehn dachte sie, das ist unbescheiden und gab der Stimme traurig Recht. Drei oder vier würden reichen. Das ist nicht wirklich gewünscht. Das ist ein Zipfelchen von einem klitzekleinen Wunschkindlein, das so klein ist, dass es gar niemand sehen kann.
"ICH sehe es!" Die Stimme wurde schrill und nahm nun den ganzen Platz in ihrem Kopf ein. Sie breitete sich aus wie ein giftiges Geschwür, wie ein lebensbedrohliches Gas, wie eine Blase aus Bedrohung und Angst, die jeden Moment platzen konnte.
Tränen traten in ihre Augen. Ihre Lippen wollten ‚vier’ formen, aber sie blubbten nur Fetzen, von denen sie selbst nicht wusste, was sie bedeuten sollten.
Der Druck in ihrem Kopf wuchs immer mehr. Sie hob die Hände, um ihn weg zu schieben, aber die drohende Stimme war stärker.
"Du darfst dir nichts wünschen. Es ist bei Strafe des Todes verboten."
Ein kleiner Zischlaut kam aus ihrem Mund. Ein schluchzendes Gurgeln folgte. Sie tappte blind vor sich hin. Jemand schrie: Stehenbleiben. Autos quietschten. Menschen schrieen. Den Schlag gegen ihren Kopf spürte sie nicht, aber die Stimme war noch da: "Du darfst dir nichts wünschen. Auch keine vierzehn lieben Gedanken."
In ihrem blutigen Schmerz nahm sie die Stimme kaum noch wahr und vergaß die Bedrohung. Einen bitte, schenk mir einen, bettelte sie. Nur einen. Ganz allein für mich. Einen lieben Gedanken für mich. Nur einmal in meinem Leben, flehte sie und merkte nicht mehr, dass sie starb.
Hast du das gesehen, sagte einer der Zuschauer. Die blöde Kuh ist einfach auf die Fahrbahn gelaufen.