[2004-11-27] 
 

Die Blutsträgerin (Arbeitstitel)


I
Beim Bücken bildete sich in ihrem linken Nasenloch ein dicker kleiner Blutstropfen und hangelte sich an den inneren Nasenhärchen hinunter, als sie wieder aufstand. Die Erdanziehung macht auch vor Blutstropfen nicht Halt.
So ein Blutswinzling ist ein merkwürdiges Ding. Es fühlt sich anders an als Rotze und anders als das Nasenwasser, das dir sonst das Leben schwer macht, wenn du Schnupfen hast oder einfach aus einer kalten in eine warme Welt hineingerätst.
Zunächst einmal ist rinnendes Blut, das aus der Nase will, nicht unangenehm. Da ein solcher Vorgang jedoch so selten ist, kann der Mensch sich nicht durch regelmäßige Übung darauf einstellen und erschrickt. Das wiederum führt eventuell zu ruckartigen Kopfbewegungen, woraufhin das Blut an Geschwindigkeit gewinnt und schließlich in der gewünschten Freiheit landet. Leider macht sich die Freiheit nur als roter Klecks in der Landschaft bemerkbar. Soeben noch die Nase ausgefüllt, ist der Blutstropfen nunmehr nur noch ein Fleck, der binnen kürzester Zeit seine Identität verliert und gar nicht mehr als Blut zu erkennen ist. So ist das manchmal mit der Freiheit!
Jedoch zurück zu unserer Blutsträgerin. Sie schaute den Fleck, wie schon erwähnt, erschrocken, an, denn nicht nur der Blutsgedanke, sonder auch die rote Farbe war in ihrer Umgebung ungewöhnlich, hatte sie doch eher eine Vorliebe für gedeckte Blau- und Grautöne.
Wasser. Sie erinnerte sich, dass frisches Blut am schnellsten mit frischem Wasser zum Verschwinden gebracht werden kann. Dass das Zielobjekt des Blutstropfens ein schlichtes hellgraues T-Shirt gewesen war, erwies sich nun als vorteilhaft, denn sie konnte es ausziehen und sofort in ein Wasserbad werfen. Kaltes Wasser wohlgemerkt. Sie hatte keine Ahnung, warum das Wasser nicht warm sein sollte. Aber es war ihr in dem Moment egal, als sie das tropfende T-Shirt mit spitzen Fingern vor sich hielt und die Wirkung des Wassers überprüfte. Gut. Es hatte gewirkt. Alle Zeichen von Blut waren beseitigt. Die graublaue Ordnung war wieder hergestellt.
II
Sie hatte das T-Shirt zum Trocknen aufgehängt und ein Frisches angezogen, als sie, langsam vom Nacken aufsteigend, einen schweren Kopfdruck spürte. Kurz überlegte sie, was sie gestern gemacht hatte. Ach ja, sie eine Wasserkiste angehoben und die Treppe hinaufgetragen. Dabei hatte sie sich wahrscheinlich den Nacken verrenkt oder gezerrt.
Der Druck wurde stärker und fing an, sich in sanft ausbreitende Schmerzen zu verwandeln. Sie wandte sich ihrem kleinen Tablettenvorrat zu. Zwei Aspirin würden helfen.
Als sie die Tabletten in Wasser auflöste, spürte sie es wieder. Ein weiterer Blutstropfen wartete auf seinen Start. Sie griff sicherheitshalber zu einem Handtuch und legte den Kopf ein wenig zurück. Das Blut wurde gleichsam in der Schwebe gehalten. Sollte es sich erneut der Erdanziehung ergeben, oder wäre der Weg in den Rachen eine Alternative?
Die Blutsträgerin atmete tief durch die Nase ein und leicht durch den Mund wieder aus. Wenn sie das Blut zurücksaugen konnte, tief in sich selbst hinein, dann würde sie vor der roten Farbe nicht erschrecken müssen. Es würde im Dunkel verschwinden, und was im Dunkel ist, kann nicht gesehen werden. Sie konzentrierte sich auf das Atmen und schien Erfolg zu haben. Im Rachenraum bildete sich eine merkwürdige Geschmacksempfindung. So einen Geschmack gibt es sonst nirgends, und deswegen ist er den Menschen unangenehm, weil so unvertraut. Vielleicht würde es so schmecken, wenn sie an einem Stück Eisen lecken würde, dachte sie. Aber sie kam nicht dazu, den Gedanken weiterzuverfolgen, oder ihn gar in die Tat umzusetzen, denn  aus dem zweiten Nasenloch schoss ganz unvermittelt ein Blutschwall, der sich vorher nicht angekündigt hatte. Vielleicht hatte sie aber die Warnzeichen nur nicht wahrgenommen. Erneut ruckte sie entsetzt mit dem Kopf, hatte aber instinktiv das Handtuch vor ihr Gesicht gezogen, das sich jetzt blutrot füllte.
Wasser, dachte sie, Wasser. Irgendwann hatte sie einmal gelesen, dass man solche Blutungen bekämpfen könne, wenn man kaltes, klares Wasser durch die Nasenlöcher nach oben zieht. Mit der einen Hand hielt sie das Handtuch, mit der anderen drehte sie den Wasserhahn auf und bog ihr Gesicht unter den sprudelnden Wasserstrahl. Die Wasser-Blutmischung, die sie nun in sich hineinzog, fühlte sich widerwärtig an. Sie hatte Mühe, einen aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken, schaffte es dann aber doch. Der Blutstrom hatte aufgehört. Sie hatte es geschafft. Erschöpft wie nach einer schweren Anstrengung atmete sie aus, hielt ihren Kopf jedoch immer noch leicht schräg nach hinten geneigt, für mehr Sicherheit. Angst setzte sich in ihrem Nacken fest.
III
Das Handtuch warf sie in die Mülltonne. Noch einmal wollte sie nicht mit ihrem eigenen Blut konfrontiert werden. Sie grub es ganz unten ein und häufte den übrigen Abfall darüber.
Die Kopfschmerzen hatten nachgelassen, aber sie hatte den Eindruck, als würden sie in Lauerstellung zwischen ihren Schulterblättern sitzen. Müde schleppte sie sich auf ihren Sessel und versuchte sich zu entspannen. Der Geschmack in ihrem Rachen war noch immer ganz leicht da. Sie versuchte, ihn mit einigen konzentrierten Schluckbewegungen loszuwerden, aber er war hartnäckig. Je mehr sie darüber nachdachte, um so mehr fand sie diesen Geschmack scheußlich, eklig, einfach grauenhaft. Er gehörte nicht zu ihr. Sie wollte ihn nicht mehr. Ich verschlucke dich, dachte sie. Ich verschlucke mich. Sie spülte mit einem großen Glas Wasser nach und hörte in sich hinein. Das Blut-Wasser-Gemisch rann ihre Kehle hinunter. Sie verfolgte es durch die Speiseröhre und fühlte, wie es den Magen erreichte.  
In diesem Augenblick spürte sie einen Blitz und im selben Moment einen Krampf, der sich anfühlte, als würde sich ihr Magen aufrollen und sich zu einem Klumpen zusammenballen. Sie würgte. Atmen, dachte sie, atmen. Aber es war zu spät. Das Blut kam wieder. Wie ein wütender Stier raste es den Weg zurück, kämpfte sich gegen jeden Widerstand nach oben und blieb Sieger. Eine Blut-Fontäne ergoss sich aus ihrem Mund und besudelte ihre Kleidung, ihren Sessel und, so schien es ihr, ihre ganze Wohnung und ihr ganzes Leben.
Der Ausbruch war so gewaltig gewesen, dass sie zunächst wie gelähmt in ihrem Sessel verharrte. Aber ihr Blut ließ ihr eine sehr kurze Ruhepause. In wildem Entsetzen spürte sie, wie ihr Darm zu brodeln anfing. Seine Zuckungen waren bestimmt auf ihrem Bauch zu sehen, aber sie wagte nicht, einen Blick darauf zu werfen. Stattdessen raffte sie sich unter Aufbietung aller Kräfte auf und lief zur Toilette. Während sich ihr Darm entleerte, betätigte sie ununterbrochen die Wasserspülung. Sie wollte das Blutbad nicht sehen. Das Wasser sollte das Blut wegwaschen, es einfach mitnehmen in die ewige Düsternis. Sie spürte die Spritzwassertropfen der Spülung auf ihrer Haut. Sie waren angenehm kühl und nahmen die schwüle Wärme ihres Blutes mit.
IV
Lange saß sie noch und fühlte sich völlig leer. In die Wohnung wollte sie nicht mehr zurückkehren. Sie hatte Angst vor dem Rot. Wenn sie daran dachte, wurde der Kopfdruck  wieder stärker, aber sie konnte ihren Gedanken und ihren Vorstellungen nicht Einhalt gebieten. Ich muss meinen Kopf kühlen, dachte sie. Wenn ich mich abkühle, kühlen auch mein Blut und meine Gedanken. Dann ist alles wieder gut.
Sie schleppte sich zum Waschbecken und wollte den Wasserhahn aufdrehen. Ein Blick in den Spiegel ließ sie stocken. Wer bist du, flüsterte sie entsetzt. Die hohlwangige Gestalt im Spiegel war über und über mit Blut bespritzt. Sie starrte das Spiegelbild fassungslos an, neigte sich vor, um etwas zu erkennen. Tränen strömten aus ihren Augen. Rote Tränen.
V
Kein Blut mehr, dachte es in ihr. Kein Blut mehr. Wie eine ratternde Maschine hämmerte ihr Kopf das Lied: Kein Blut mehr. Kein rotes Blut. Ich will kein Blut. Nie mehr. Sie wischte mit ihren verschmierten Händen über den Spiegel, bis sie verschwunden war.
Die Schmerzen jedoch waren wieder da und wurden nun unerträglich. Sie wusste jetzt, dass sie diese Schmerzen nicht mehr aushalten konnte, auch nicht mehr aushalten wollte. Sie sollten aufhören. Alles sollte aufhören.
Sie taumelte und drehte sich und schaffte es in Panik, zu laufen. Sie wollte laufen, aus sich hinauslaufen, weglaufen. Blindlings stürzte sie hinaus, zum Horizont, dort, wo das Meer in blaugrauer Stille vor ihr lag.
Das Wasser, dachte sie, ein letztes Mal atemlos, das Wasser lässt das Blut verschwinden.
Kleine Wellen erfassten sie. Kühl und heilend. Sie wurde von ihnen getragen, und sie fühlte sich leicht und war angekommen.  
Langsam färbte sich das Meer in ein sanftes Rot.