[2004-10-31] 
 

LOTTES BESUCH


Lotte. Komm. Du hast Besuch. Lotte schüttelte den Kopf. Ich will keinen Besuch. Ich sitze in der Dunkelheit meines Überraschungs-Üis, wo der Schlüssel von innen steckt und ihr draußen herumschleicht und lauert und Euch niederkauert und so christlich dem Wahn der Liebe erliegt und in Wirklichkeit lügt und betrügt. Ich könnte auch Maria heißen, aber das würde nichts ändern.
Sie schauen mich an und bewegen ihre Münder, und ihre Gesichter verziehen sich breit, doch ihre Augen sind starr und versuchen zu lächeln. Sie bringen mir Schwere und Hohn, die Glocken sind viel zu schwer,  und den Lohn nehmen sie mit.  Wenn sie gehen, lassen sie ihr Lächeln im Raume stehen. Ein müdes und kleines, ohne Duft und Aroma, ohne Soufflee-Leichtigkeit, die genügen würde, die Wände zu erreichen und ihre Ritzen zu erfüllen. Es schrumpft auf der Stelle wie eine alte Wurstpelle und fällt auf den Boden. Noch nicht einmal erschöpft, weil es sich gar nicht angestrengt hat. Der Besen fegt es weg und schmeißt es auf den Dreck. Auf den Haufen von Dreck, den die Besucher ausstoßen, wenn sie so tun als seien sie Suchende und in Wirklichkeit verweigern sie sich und laufen davon. Sie sind ihr Leben lang laufende. Durchlaufende. WeglaufendeSondermüllKandidaten.
Schlüssel-Loch. Der Schlüssel steckt innen. Ihr dürft nicht herein. Lasst die Hände weg von dem Üi. Pfui! Sie sollen mich nicht anfassen, diese Kleptomanen meines Ichs. Sie sollen mich nicht ansprechen mit ihren bellenden Hundeaugen. Sie sollen mir nicht ins Gesicht husten hinter vorgehaltener Hand und ihre Peinlichkeit verstecken wollen. Die ehrliche kleine Haut klebt fest und kann sich nicht lösen. Die Glocken sind zu schwer für mich, dachte Lotte traurig. Mein Rücken ist rund, und ich trage schwer an ihrem Gewicht.
Jemand zupfte an ihrem Arm.

Mama? Lotte schaute empört. Maria bitte. Und rühren Sie mich nicht an. Lotte hatte einen Schleier vor ihre Augen gelegt und hüllte die Besucher in einen verwaschenen Nebel. Schatten tanzten darin mit langsamen, weichen Bewegungen. Tanzbewegungen. Wir haben getanzt, dachte Lotte. Aber dann ist der Klang abgebrochen. Ein Holzstück, das mittendrin durchgebrochen wird. Mit spitzen Zacken und traurig.
Noch einmal von vorne tanzen.
Lotte ließ sich auf den Rücken fallen und streckte die Beine hoch in die Luft.
Mama! Lotte ließ ihre Beine in der Luft hängen und drehte ihren Kopf leicht um. Diese vogelleichte Stimme. Lotte lauschte. Die Stimme zwitscherte und flatterte an ihr vorüber. Stimmen-Schmetterling, dachte Lotte. Leicht und die Ahnung einer Erinnerung. Lotte schürzte die Lippen und sog die Luft ein. Vielleicht würde die Stimme sich fangen und essen lassen. Sie würde gut schmecken, denn sie hätte die Süße eines Apfelpuddings. Das wusste Lotte und schmatzte ein wenig, aber sie wusste nicht genau, wohin sie den Apfelpudding stecken sollte, und wenn er vor ihr stünde: mit wem sollte sie ihn teilen? Ihre Lippen formten ein unwilliges Fischmaul. Ich lasse den Apfelpudding für meine Kinder, beschloss sie und wedelte zur Bekräftigung mit den Beinen.
Mama. Dein Rock! Eine Figur machte sich an ihrer Kleidung zu schaffen. Lottes verhängte Augen schauten sie durch den Nebel an. Sie hielt ihre Beine steif in die Luft gestreckt und fühlte, wie sich störrischer Unmut in ihr ausbreitete. Ein Hund, dachte sie, ein Hund muss her. Einer, der mich bewacht und auf mich aufpasst, damit niemand an meinem Rock zupfen kann, wenn ich es nicht will. „Wuff“, bellte Lotte. „wuff, wuff“.
Aber die Figur wollte nicht hören. Vielleicht kannte sie keinen Hund, keinen Lotte-Hund, der ihr jetzt in den Finger biss, denn Lotte-Hunde darf man nicht reizen. O Gott, der Doktor soll kommen. Die federleichte Stimme piepste nun weinerlich und hatte ihren Flatterduft schon verloren.
Lotte baumelte zufrieden mit den Beinen in der Luft.


Verworren, sehr verworren, verwirrt, sagte der Doktor. Lotte nickte fein. Der Doktor war ein guter Mann und freundlich. Einmal hatte sie ihn in die Hand gebissen. Er hatte aber gar nicht gejammert und geschimpft.  Stattdessen hatte er ihr ein Netz hingehalten, mit dem sie in Zukunft ihre Aggressionen einfangen sollte. Lotte benutzte das Netz wie ein Schmetterlingsnetz, denn sie wusste wann es genug war und sie gefangen hatte, was sie fangen wollte.
Heute hatte der Doktor kein Netz-Rezept dabei. Er wollte, dass sie Tabletten schluckte. Große. Bunte. Viele. Aber Lotte wollte keine Tabletten. Auch nicht die Bunten. Störrisch kniff sie ihre Lippen zusammen. „Ich male mir meine Tabletten selbst“, erklärte sie dem Doktor, der jedoch nicht zuhören wollte. Lotte überlegte, ob sie ihn wieder beißen sollte, aber der Gedanke verhuschte sich schnell wieder, und sie schaute ihm freundlich hinterher.
„Lotte!“ Der Doktor hatte seine Stimme verstellt. Er klang nun wie ein böser Hund, einer der gleich beginnen würde zu bellen. Einer, der zurückbiss, wenn sie ihn zwicken würde. „Wuff“, sagte Lotte. Aber der Hund bellte nicht, und er guckte auch nicht freundlich. „Wuff, wuff“.
„Hör auf mit dem Unsinn, Lotte. Ich habe noch was anderes zu tun, als mit dir rumzuspielen.“
Spielen, dachte Lotte. Ach so. Warum hat er das nicht gleich gesagt.
Sie bückte sich, richtete sich auf allen Vieren ein, und setzte vorsichtig ein Bein vor das andere. Wuff, sagte sie auffordernd. Und noch einmal „wuff“. Von hinten grapschte jemand an ihre Bluse.  
Das durfte man aber mit einem wilden Hund nicht tun! Warum wussten die das alle nicht? Lotte warf sich mit Kraft herum und versuchte, ihre Angreifer zu fixieren. Sie ließ ihre Augen blitzen und fletschte die Zähne.  Grrrrr, drohte sie.
Ach Lotte. Du bist heute ein sehr ungezogenes Mädchen. Lass das!
Lotte spürte, dass ihre Attacke sich unerkannt verlaufen wollte. Nein. Einen Lotte-Hund darf man nicht so behandeln! Lotte erhob sich, streckte sich, reckte sich und hob ihre Fäuste. Sie würde sich verteidigen. Sie würde die Angreifer erschrecken und verjagen. Sie würde nicht erlauben, dass Lotte etwas passierte.
Schemenhaft erkannte sie den Doktor, der an einer Tasche nestelte. Schemenhaft nahm sie wahr, dass jemand dem guten Lotte-Hund einen Klaps gab und ihn schalt. Schemenhaft blieb in ihrer Erinnerung, dass Nadeln spitz sind und niemand sich dagegen wehren kann.





Am 24. stellte Lotte ihr Lachen ein. Sie hatte gemerkt, dass es niemandem mehr half, und ihr selbst auch nicht.  Sie wollte nicht mehr das Spiel der anderen spielen, sondern nur noch ihr eigenes. Sie entließ die Schatten aus ihrem Kopf. Geht, meine Kinder. Ich brauche Euch nicht mehr. Ich gehe in meine Dunkelheit, die mir ein neues Licht sein wird.

Sie ging davon
mit schnellen Schritten
in den Garten hinaus
über den Zaun und die Wiese
und wurde kleiner und kleiner
und verschwand hinter dem Horizont
und dann war sie nicht mehr da
und angekommen