[2004-09-30] 
 

LOTTES PERLEN


Lotte saß im Rosenbeet und warf die Blütenblätter in die Luft. Ich werde mir ein Kleid nähen, dachte sie. Ein Rotes wird es sein. Es hatte immer ein Rotes sein sollen. Aber sie hatten ihr stets ein Blaues gemacht. Ein Blaues! Lotte schüttelte sich vor Abscheu und streichelte die samtenen Blätter. Ich werde mir ein Kleid aus Euch nähen, sagte sie. Ein streichelrotes Kleid aus Samt. Zum Küssen rot.
Ein Stich ließ sie zusammenzucken und sie schaute verwundert auf ihren Daumen. Ein Blutstropfen trat hervor, wurde dick und dehnte sich aus und begann sich auf der Haut auszubreiten und nass und kitzelnd herabzurinnen.  Warum weinst du?, fragte Lotte verwundert. Rote Tränen gehören nicht zu mir. Rote Tränen gehören den Kindern. Und die müssen gut auf sie acht geben, denn sie erstarren zu Perlen, von denen man sich etwas wünschen kann.
    Zufrieden schaute sie sich in ihrem Rosenbett um. Ich bin ein Baum, dachte sie. Und die Rosen sind meine Kinder. Ich bastle mir ein Kinderkleid aus Perlen. Sie knipste ein paar Dornen ab und nickte energisch. Ich bastle mir eine Perlenkette.
Lotte beobachtete mit Freude, wie immer mehr Perlentropfen aus ihrer Haut traten und eine punktierte rote Linie bildeten, die sich allmählich über ihren ganzen Arm zog. Eine Kette für meinen Arm, dachte sie. Eine wertvolle Kette, die mir niemand stehlen darf. Es ist meine Kette. Meine Schatzkette. Sie versuchte, den Arm gerade zu halten und ihn nicht zu bewegen, damit die Perlen nicht im Sand des Gartenbeets versickerten. Mein Perlenast, dachte Lotte und achtete darauf, dass ihr Arm sich nicht nach unten bog. Ich muss stark sein, dachte sie, stark für meine Kinder, denn nur die dürfen die Früchte pflücken. Sie spürte erleichtert, dass das Blut auf ihrem Arm schnell zu trocknen begann. Das frische Rot nahm einen dunkleren Ton an, krallte sich an ihrer Haut fest und ziepte ein wenig um die Gunst von Lottes Aufmerksamkeit. Wartet ab, sagte sie. Die Kinder werden bald kommen.
Vorsichtig begann sie, ihr Werk an ihrem linken Bein fortzusetzen. Lottes  Rosenperlenbaum. Ein starker Baum würde es werden. Mit roten Blüten für ihr rotes Kleid.
Da fühlte sie die Schlinge. Jemand hatte ein Seil über sie geworfen, ein dickes Seil , das ihr fast die Luft abschnürte und ihre Arbeit jäh unterbrach. Ein Schraubstock, dachte Lotte, sie machen einen Schraubstock aus mir. Ich will kein Stock sein, ich will ein Baum sein, der die Perlen festhält. Ein krächzendes Brummen näherte sich und wurde in seinem anschwellenden Ton immer bedrohlicher. Sie duckte sich, um der Bedrohung auszuweichen, sie zog den Kopf ein vor diesem Brummen, das nun klang wie ein dicker ekliger riesiger Laster, der gleich über sie hinweg fahren würde, aber sie konnte nicht weglaufen. Lotte spürte, wie Angst in sie hineinkroch und Panik und Entsetzen. Es wird mich töten, das Brummen, dachte sie. Es trachtet nach meinem Leben
Ein Stich, der kein Dornenstich war, fuhr in ihren anderen Arm, der noch kein Baumarm hatte werden können.  
Eine Nadel. Eine Nadel sticht und näht, dachte sie. Sie wollen die Lotte neu nähen. Sie zuckte zurück und wollte ihren Arm in sich bergen. Sie müssen das richtige  Schnittmuster nehmen, ging es ihr durch den Kopf, und die richtige Farbe. Kein Blau. Auf keinen Fall blau! Dieses Mal müssen sie auf mich hören. Fragt mich doch, sonst näht Ihr eine ganz falsche Lotte zusammen. Sie hob ihren Zeigefinger mahnend in die Höhe und setzte einen strengen Blick auf. Aber bevor sie ihr Anliegen in Worte fassen konnte, hatte der kleine stechende Schmerz aufgehört, und Lotte wurde müde.
Sie hören auf mich, dachte sie, bevor sie einschlief. Dieses Mal hören sie auf mich.