[2004-09-30] 
 

LOTTES WEG  


Lotte schien es, als hätte jemand gerufen. Von weit weg. Von drüben. Ein zarter Ton war es nur. Federleicht und beinahe vergangen, bevor er ihr Ohr erreichte. Kein Ton eigentlich. Eine Empfindung. Eine spürbare Hinwendung. Ein Gruß. Lotte versuchte, sich zu erinnern, versuchte, den Gruß zu lesen, die Botschaft zu entziffern und begann ärgerlich, die nebligen Wellen wegzuschaufeln, die sie umgaben und ihr die Sicht nahmen. Sie klatschte sie mit ihren Händen klein, patschte mit ihren Handflächen mitten hinein und verspritzte die Energie in alle Richtungen. Doch die Wellen blieben ihr nah, und nahmen Lotte gefangen und hüllten sie ein in ihr Bett.
                   Ich schwimme, dachte Lotte. Alles dreht sich. Ich tanze.  Ein Tanz, rief sie, kommt meine Kinder, tanzt mit mir.
Die Luft surrte von den schnellen Bewegungen, ein sirrender Singsang, eine Welle und noch eine und noch eine, die immer höher wurden und eine Treppe bildeten, auf der Lotte nach oben steigen konnte. Ein bisschen schwindlig fühlte sie sich, aber die schwankenden Drehbewegungen gefielen ihr  und sie kuschelte sich lächelnd darin ein. Das Raunen und Rauschen wurde stärker. Lotte umarmte die Luft, und ihr Gesicht war glücklich, und ihre Hände fuhren nach oben und begrüßten den Himmel, und sie war ganz nah.
Langsam, langsam, Lotte, bleib hier. Wenn du über das Gitter kletterst, tust du dir weh.
Oh, sagte Lotte und schaute verdutzt zurück. Ihr langes Kleid hatte einen Riss, und ein Nagel hatte ihr das Bein aufgeritzt. Sie hing über dem Balken, als wenn sie eine Rolle vorwärts machen wollte.
Hände hielten sie fest und drückten ihre Schultern zurück  in ihr Kissen.
Unterschreib das mal, Lotte.
Der Stift war bunt, und der Druckknopf leuchtete sie orangerot an.
Feuer, dachte Lotte. Ich muss das Feuer melden. Das Feuer wird uns alle verbrennen.   Sie würgte und hustete, um ihren Mund sauber zu bekommen von der verbrannten Luft. Dieses schwüle und schwadige Zeug wollte sie nicht  schlucken.
Lotte! Ein scharfer Ton fuhr durch ihren rötlichen Nebel und verletzte sie am Ohr. Empört schlug sie den Ton zurück. Sie spuckte ihn an und prustete und bildete mit ihrem Speichel ein kleine Fontäne, mit der sie ihn traf und auslöschte.
Ich lösche den Brand, dachte Lotte und schnüffelte an dem Papier, das sie in der Hand hielt. Ja. Es roch verbrannt. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde es zu Asche werden und verfallen. Dann bräuchte sie nicht mehr zu unterschreiben, weil das kleine Aschenhäufchen stärker wäre als der Stift der Sinnlosigkeit.
Ein weiterer strenger Ton ließ Lotte hochfahren. Jemand griff nach ihrer Hand und dem Stift und zwang beide zusammen und führte sie über das Papier, und der Feuermelde-Knopf schaute sie klagend an.
Siehst du Lotte, bist ein gutes Mädchen. Eine Lebensretterin.
Der Stift und das Papier verschwanden aus ihrem Gesichtsfeld.
Lotte schnaubte böse. Ich bin kein gutes Mädchen. Ich bin Lotte, die das Feuer löscht. Mit stolzem Blick schaute sie sich auffordernd um. Aber da war niemand, dem sie begegnen konnte.
Ich muss mich dünn machen, dachte sie. Ganz dünn, dann kann ich zwischen den Stäben durchschlüpfen. Wenn ich die Luft nicht schlucke, die mich dick macht, werde ich es schaffen. Ich schlüpfe durch und entferne mich aus dem Bild.
Der Nebel lichtete sich, und die Schatten wurden grau. Asche, dachte Lotte. Asche fällt immer auf den Boden. Sie legte sich zufrieden zurück. Ich muss schlafen, dachte sie. Ich muss Kräfte sammeln, denn zum Fliegen braucht man Kraft.