[2004-08-09] 
 

Ein Künstler


Ich mache dich zum Kunstwerk, sagte er und schaute sie liebevoll an.
Er umfing ihren makellosen Körper mit seinen Blicken. Ihre schimmernde Haut, leicht gebräunt, glatt – es gab kein edleres Material für einen Künstler wie ihn.
Seine Augen verweilten auf ihren perfekt geformten Brüsten. Die Geschicklichkeit aller Schönheitsoperateure dieser Welt würde nicht reichen, um dieses Original nachzuarbeiten. Nichts als eine schlechte Kopie würde ihnen gelingen.
Aber er. Ja. ER würde aus ihr ein Kunstwerk machen. Ein Unvergleichliches. Ein Nie- Da -Gewesenes. Die Welt würde staunen...
Mit Gold würde er arbeiten. Nichts anderes als das Metall der Könige war gut genug für sie. Vor seinem geistigen Auge erschien ein kleiner runder Punkt. Gold glänzend. Er wusste genau, was er zu tun hatte....
Er punzte ein kleines Loch über die Rundung ihrer linken Brust und füllte es mit flüssigem Gold. Aaah. Die Krönung! Dieser kleine zylindrische Pfropf erhöhte ihre Schönheit auf magische Weise. Ob sie es auch fühlte? Dieser Glanz.
Er spürte, wie das Gold feinfunkelnde Strahlen aussandte, die in seinem Inneren eine tiefe Begierde weckten. Diese Schönheit, diese makellose Figur wollte er besitzen. Sie sollte ihm für immer gehören. Es drängte ihn zu ihr hin. Er wollte ihren Leib an seinem Leib spüren. Er seufzte verlangend.
Aber.
Ein klitzekleiner Leberfleck knapp oberhalb ihres Nabels fiel ihm ins Auge. Wieso hatte er den nicht bereits vorher gesehen? Der musste weg. Je länger er ihn betrachtete, desto größer schien der Fleck zu werden. Nein. Er würde nicht erlauben, dass dieser Fleck sein Kunstwerk verschandelte, verwüstete.
Er nahm genau Maß. Dann stanzte er über den Fleck zielsicher ein Loch gleicher Größe. Besser hätte er es nicht treffen können. Der braune Fleck war weg, und an seiner Stelle glänzte es golden.
Ja. Das sah hervorragend aus. Zufrieden spürte er, wie sich ein leichtes Ziehen in seiner Leistengegend ausbreitete. Er konnte seinen Blick kaum von dieser Schönheit losreißen.
Aber.
Wenn er es sich genau überlegte, war durch die zweite Goldfüllung eine Unsymmetrie entstanden. Ein Künstler, der die Perfektion sucht, darf jedoch auf Symmetrie nicht verzichten.
Erneut nahm er Maß und setzte ein Goldloch auf ihre rechte Brust, in gleicher Höhe wie jenes auf der linken Brust, so dass man sich nun mit einem kleinen Augenkneifen ein magisches Dreieck vorstellen konnte: eine waagrechte Linie verband die Symmetrie ihrer Brüste, von deren Endpunkten zwei Linien spitz nach unten verliefen zu dem Goldersatzfleck über ihrem bezaubernden Nabel. Je länger er diesen imaginären Linien folgte, desto mehr wuchs seine Erregung.
Aber.
Er konnte ja noch mehr! Er brauchte sich diese Linien doch nicht nur vorzustellen. Er könnte sie aus seinen Gedanken herausnehmen und wahr machen. Er konnte sie sichtbar machen zum Zeichen ihrer Schönheit. Ja. Konzentriert machte er sich an die Arbeit und stanzte Loch für Loch entlang dem Linienverlauf. Dann füllte er alle Löcher mit flüssigem Gold.
Als er mit seinem Werk fertig war, verschlug es ihm fast den Atem. Dieser perfekte Körper wurde von der Perfektion des goldenen Dreiecks geadelt, erhöht – zwei Formen, die sich zur Vollendung fanden.
Gerade kam die Sonne hinter den Wolken hervor und brachte die goldene Pracht erst richtig Erstrahlen. Kleine kostbare Lichter funkelten spritzten in seine Augen.
Mehr, dachte er. Mehr.
Er begann, das ganze Dreieck mit Löchern zu füllen. Es dauerte lang, denn er arbeitete akribisch. Es durfte ihm ja kein Fehler unterlaufen. Fehler würden dieses kostbare Kunstwerk unwiderruflich zerstören. Ein grauenhafter Gedanke. Ihn schauderte. Kurz hielt er inne, fasste sich aber schnell wieder und setzte seine Arbeit fort, bis die Fläche des Dreiecks über und über mit runden Zylinder-Plättchen aus Gold bedeckt war.
Die Lichtreflexe, die von diesem Meisterwerk auf seine Netzhaut fielen, waren stark. So stark, dass er die Augen schließen musste, wobei sich das Bild des funkelnden Dreiecks für einen Moment verdoppelte. Eine Täuschung seines Gehirns nur, wie es oft geschieht, wenn die Linse zu sehr beansprucht wird. Aber was für eine Täuschung! Er fühlte es sofort: es war ein Fingerzeig!
Er würde ein zweites Dreieck schaffen.
Sanft drehte er sie um und setzte sein Werk auf ihrem perfekten Rücken fort. Etwas unterhalb der Schulterblätter zog er die Waagrechte. Er stellte sich vor, dass es die gleiche Höhe sei, wie jene Linie, die auf der Vorderseite ihre Brüste miteinander verband. Für einen kurzen Augenblick bedauerte er, dass er nicht lotrecht von hinten nach vorne stechen konnte, um die beiden Linien deckungsgleich zu gestalten.
Schneller und sicherer wurde er in seiner Arbeit, und er kam zügig voran. Es bestand nun kein Zweifel mehr, dass er die Form perfekt erfüllen würde. Seine Hände waren ruhig, auch wenn er innerlich vibrierte und die Vorfreude auf die Fertigstellung seines Kunstwerks ihn schwer atmen ließ. Sein Speichelfluss verstärkte sich. Er schluckte heftig, ließ sich davon aber nicht in seiner Tätigkeit beirren.
Er kam gut voran, bis er spürte, dass diese kleine Gedanke sich nicht mehr vertreiben ließ, der ihn zuvor angeflogen hatte: war das hintere Dreieck deckungsgleich mit dem Vorderen? Dies war eine unabdingbare Voraussetzung für sein Kunstwerk. Er spürte Wolken des Zweifels in sich aufsteigen – die freudige Unruhe, die ihn seit Beginn seiner Arbeit erfüllt hatte, verwandelte sich in grüblerisches Unbehagen.
Er drehte sie erneut und noch einmal und noch einmal. Mit jeder Drehung schien es ihm, als seien die Dreiecke an völlig unterschiedlichen Stellen entstanden. Überhaupt nicht nach seinem Plan. Überhaupt nicht deckungsgleich. Weit von seiner Idee der Perfektion entfernt.
Man müsste die beiden Dreiecke miteinander verbinden, dachte er. Mit je einer Goldlinie über die Schultern. Wie Spaghetti-Träger von einem Sonnen-Top. Wenn auf jeder Seite die gleiche Anzahl von Löchern entstehen würde, dann hätte er den Beweis, dass sein Werk perfekt war.
Er wischte seine Bedenken beiseite. Warum sollte er sich geirrt haben?
Als der erste Träger fertig war, wurden seine Augen feucht. Sein Kunstwerk war auf dem Weg, noch schöner zu werden. Er spürte, wie seine Emotionen ihn fast überwältigten. Aber er drängte sie zurück. Noch nicht.
Dann geschah das Unerwartete, das Unfassbare. Eines der Löcher war daneben geraten. Er hatte es neben die Linie gestanzt! Es gab keine Erklärung, wie ihm so etwas hatte passieren können. Er war entsetzt und völlig außer sich. Für einen Moment wollte er das Kunstwerk zerstören, zerschlagen, vernichten. Er wollte es nicht mehr haben, dieses sichtbare Zeichen für seine Unzulänglichkeit. Alle würden sehen, dass er versagt hatte, und dass es ihm nicht gelungen war, die Glieder des Goldträgers und damit das Gesamtkunstwerk zur Perfektion zu bringen.
Tränen liefen ihm über das Gesicht. Sie wuschen den Glanz der Freude und des Künstlerstolzes aus seinen Augen heraus. Sein Blick unter den halb geschlossenen Lidern wurde trüb. Dieses Kunstwerk hatte ihn um seine Lebensfreude gebracht, um den Genuss, den er so lange begehrt und ersehnt hatte.
Er schaute sie missmutig an.
Aber das Funkeln des Goldes war ja noch da, und die Sonne tat ihr Bestes, um den Glanz noch zu verstärken. Noch einmal glomm Hoffnung in ihm auf.
Ja. Er müsste statt der schmalen Träger eine breitere Verbindung herstellen, eine Schärpe, eine Stola, so etwas wie einen Schal. Das würde seinen Fehler verdecken und niemand würde mehr an seinen Fähigkeiten zweifeln. Warum war er denn nicht gleich darauf gekommen! Er war erleichtert, dass aus seinem Unglück nun eine Lösung erwachsen war, die seine Ausgangsidee sogar noch übertraf.
Begeistert machte er sich an die Arbeit. Bald waren ihre Schultern mit Gold bedeckt, dann ihre Arme und Hände. Er befand sich jetzt im völligen Schaffensrausch. Das Blut raste durch seine Adern, er keuchte und spürte, dass er Mühe hatte, seine Hände ruhig zu halten. Aber noch war sein Werk nicht vollendet.
Die goldenen Arme waren das Signal, das Zeichen, das ihm zeigte, was er zu tun hatte. Er würde ihr eine zweite Haut anpassen. Eine goldene Schlangenhaut. Das Reptil seiner Begierde.
Fieberhaft stanzte er die Löcher. Wie eine Maschine arbeitete er. Beinahe roboterhaft schloss er die Löcher mit kleinen Goldpfropfen zu, deren Metalldeckelchen sich auf der Haut wie runde Schuppen anordneten. Er tat, was er zu tun hatte, völlig mechanisch, seine Bewegungen waren gleichförmig, sein Verstand war ausgeschaltet, er funktionierte nach einem Schema und Prinzip, das er selbst nicht mehr durchschaute. Aber er wusste, er konnte nicht mehr zurück. Der Sinnenrausch hatte ihn fest im Griff. Das Fieber würde erst vorübergehen, wenn er das Werk vollendet hatte.
Dann war es so weit. Mit einem Aufschrei wusste er, dass er zu Ende gekommen war. Das Gold schien den Raum zu erfüllen. Seine Göttin war vollendet.
Er kniete nieder und schlang seine Arme um sie. Er legte seinen heißen Kopf an ihren goldenen Körper. Ein glückliches Lächeln umfloss ihn. Seine Lippen öffneten sich. Er begann, sein Kunstwerk mit der Zunge zu erforschen. Er beleckte, leckte und schleckte jedes dieser kühlen Plättchen auf ihrer Haut, glatt und eben, zur Perfektion gebracht von ihm, dem Künstler. Ihm gebührte die Ehre, der Ruhm und die Glückseligkeit.... Am liebsten wollte er sie essen, verschlingen, in sich aufnehmen.
Er begann, mit Inbrunst an den Goldplättchen zu saugen. Köstliche Nahrung. Noch nie hatte er so etwas gekostet, nie würde er je wieder etwas anderes zu sich nehmen wollen. Der Künstler und sein Kunstwerk. Das triumphale Finale.
Er fasste eines der Goldstückchen mit seinen Zähnen, zog daran, zog heraus, was es verschlossen hatte, nahm es in den Mund, in sich auf, und... schluckte es. Sein Gottesmahl. Er würde einmalig sein, der einzige Mann, der Künstler und Kunstwerk zugleich war. Das Loch, das er geöffnet hatte, bot sich ihm dar und lud ein in eine andere Welt. Der Weg war klar. Immer schneller und schließlich in wilder Raserei sog er all das Gold in sich hinein. Er wollte göttlich sein, er würde Gott sein, ihr Gott und sein Gott zugleich...



Zeitungsmeldung:
Am gestrigen Nachmittag wurde in den Fluss-Auen eine tote junge Frau (ca. 25 Jahre) gefunden, deren Körper von unzähligen Schusswunden übersät war. Neben der Leiche saß ein etwa 60-Jähriger Mann, der auf Anfrage sagte, sein Name sei Gott. Wer kennt diesen Mann? Sachdienliche Hinweise bitte an alle Polizeistationen.