[2004-08-06] 
 

LOTTES LÄCHELN


Lotte lauschte. Die Glocken dröhnten in ihrem Kopf und brachten ihn sanft zum Schwingen. Bim bam, bim bam. Lotte wiegte sich im Auf und Ab des Glockenschlags. Ihr Körper schwang sich in die leichten Bewegungen ein, rund und angenehm. So angenehm, dachte Lotte. Ich liege im Bett und werde gewoben. Hin und her gewoben. Von meiner Mutter. Meiner weichen, warmen Mutter.
„Lotte, du musst still halten, ich schneide dir sonst die Ohren ab“. Lotte fuhr erschreckt auf. Was wollte dieser Mann von ihr? Er zerrte an ihrem Kopf und den Haaren und bog sie nach hinten und hielt sie fest...
Nein! Mit einem Ruck befreite sich Lotte aus dem Griff. Das war nicht ihre Mutter. Ihre Mutter war eine zarte Frau. Keine, die ihr die Haare lang zog und sie unziemlich unwirsch nach hinten riss. Aber „du“ hatte sie auch immer gesagt, und manchmal hatte sie gesagt, halt still, Lottchen. Das war es! Der Mann konnte nicht ihre Mutter sein. Er hatte Lotte gesagt und nicht Lottchen. Der Mann war böse. Lotte wollte aufstehen und weglaufen.
„Fixieren“, hörte sie und überlegte, woher sie dieses Wort kannte. Ja, der Friseur hatte immer die Haare fixiert, ihre eigenen Haare, die langen, schönen, glänzenden, braunen, blonden, roten, schwarzen ... oder waren sie in Wirklichkeit kurz gewesen und hatten eine ganz andere Farbe? Silbern vielleicht, oder golden? Lotte hatte keine Zeit zum Grübeln.
Jemand befestigte Bänder um ihre Brust und fixierte Lotte am Stuhl.

Brustbänder, dachte Lotte. Brustbänder, um meine Brüste zu fixieren. Meine Brüste wollen nicht fixiert werden. Geht weg mit diesen Tüchern. Sie fuchtelte mit den Händen in der Ohnmacht der Luft und bewegte nichts.


Lotte spürte Panik in sich aufsteigen: Ich kann meine Brüste nicht bewegen – ich will sie bewegen, sie gehören mir, kommt, wir gehen weg von hier, wir bewegen uns einfach hinaus. Wo ist die Tür?
Lotte spürte einen harten Griff, schmerzhaft beinahe und gleich danach Hände an ihren Haaren, die wieder nach hinten gezogen wurden. Dann strömte das Wasser, das sie nicht wollte, über ihre langen Haare, die sie so lange vermisst hatte, deren Farbe sie nicht mehr kannte, die ihr einfach abhanden gekommen waren.
Wasser über meinen Kopf, dachte Lotte. Gelobt sei Jesus Christus. Lottchen, du bist jetzt ein Gotteskind, und du wirst in die Ewigkeit eingehen und Gott preisen und loben in ewigem Glück. Lotte lauschte in die Erinnerung.
Die Glocken dröhnten wieder lauter. Ein schöner Gesang.
„Lotte, halt still!“ Eine Stimme grub sich in die Glocken, drückte sie auseinander, zerriss ihren dunklen, dumpfen, metallenen Ton, knirschte sich mitten hinein und zerstörte die kunstvoll gewebten Klänge ihrer heiligen Glocken.
Lotte schaute die Stimme tadelnd an. Was fällt dir ein, wollte sie sagen, aber das Wort wurde ihr aus dem Mund gerissen, es wurde einfach weggewischt, abgestreift und weggeworfen, so als sei es nie da gewesen. Lotte schnappte nach Luft, um neue Worte zu bilden, lautere, deutlichere, energische auch, aber es blieb ihr keine Zeit dafür. Sie musste sich wehren gegen Hände, die ihren Kopf festhielten, die ihre Finger in ihre Haare würgten, darin herumfuhren und ziepten und zerrten und ein widerlich stinkendes Zeug hineinschmierten. Ein furchtbarer Geruch. Lotte wollte sich übergeben. Ein Geruch nach Bösigkeit, die Lotte aus sich herausspucken wollte, der nicht ihr eigener Geruch war, dieser Geruch, der sich ihr aufdrängen wollte, der sie einhüllen wollte, damit sie in einer fremden Wolke versank.
Die harten Hände hielten Lotte unerbittlich fest. Gesichter neigten sich über sie. Verzerrte Gesichter mit riesigen Mündern, die sich unaufhörlich bewegten.
Lotte schloss die Augen. Ich bin heilig, dachte sie. Ich bin ein heiliges Kind, und die Glocken läuten für mich. Nur für mich allein. Sie spürte die Gesichter an ihrem Ohr. Nein, auch meine Ohren sind geschlossen. Schaut ruhig hinein. Es ist dunkel darin, und die Glocken seht ihr nicht. Ich habe die ganz Lotte verschlossen. Ich lasse Euch nicht herein. Ich bleibe in mir. Mit meinen Glocken. Ihr kriegt mich nicht. Niemand fängt Lotte wieder ein. Nie wieder. Der Hauch des Triumphs legte sich in einem unsichtbaren Schleier über ihr Gesicht und hüllte es ein.
Es war Lottes Lächeln.