[2004-07-23] 
 

LOTTES REDE


Ich muss es finden, dachte Lotte und zupfte den Grashalm lang und lauschte.  Ich muss es suchen, das Wort. Das vorwitzige Wort, das mir entschlüpft ist. Es hat sich im Gras versteckt. Es ist heruntergefallen und ist unsichtbar geworden. Ich muss es sichtbar machen, sonst bin ich verloren.
      Vier mal vier und ein Karree. Eine rote Linie und viele kleine Punkte. Der Osterhase wird kommen und mir viele kleine Eier ins Nest legen. Ein grünes Nest aus grünen langen Grashalmen. Durcheinander. Bunte Eier. Mit goldenem Papier.
        Das Wort. Ich habe es verloren. Gestern. Es ist durch die Stube gerollt und hinaus in die Ferne, auf die Reise in die Welt. Lotte grummelte ein wenig. Du darfst doch nicht einfach weglaufen! Komm zurück zu mir.
   Komm, mein lieber Osterhase, komm. Deine langen Ohren schauen aus dem Gras hervor. Ich sehe sie. Sie lauschen. Braun und lang und spitz. Lotte starrte auf die Hasenohren im Gras. Warum bewegst du dich nicht? Du brauchst dich nicht zu fürchten. Vor Lotte brauchst du dich nicht zu fürchten. Lotte ist deine Häsin. Deine unsichtbare Hasenhäsin. Unsichtbar im sichtbaren Grase. Ich sehe dich. Lotte lachte.
     Ja. Sichtbar. Sie war sichtbar geworden gestern im Versammlungssaal. Sie hatte gesprochen  und war sichtbar geworden. Eine schöne Lotte. Groß und neu.
Der Hase hatte sie gemalt. Mit langen roten Haaren und Ohren. Eine würdige Hasenfrau. Sie hatte sich aufgerichtet und war groß gewesen. Lottes Aufrichtung. Keine Hinrichtung. Sie hatte es laut und deutlich gesagt. Und den Zeigefinger hoch aufgerichtet in Gottes blauen Himmel über der Decke.
Lange Wortwülste mit vielen Silben und Konsonanten waren aus ihrer Kehle gegurgelt und über ihre Zunge gerollt. Sie  quetschten sich zwischen ihren Lippen hindurch nach draußen. Nach draußen. Sie flogen im Raum herum und schwebten und tanzten und fassten sich an zum Ringelreihen und neckten sich und versteckten sich und sausten den Anwesenden Abwesenden über die Köpfe und um die Ohren. Im Fluge ordneten sie sich neu und bildeten ein angeregtes Durcheinander ihrer Buchstaben, in eleganten Kreationen neu formiert. Lotte liebte sie dafür. Sie mochte es, wenn ihre Worte spielten, und sie lächelte über den Frohsinn ihrer Schöpfungen.





Der Raum war voll geworden, und die Worte hatten die Abwesenden Anwesenden eingehüllt, hatten sie neu angezogen, mit Wörterkleidern von Lotte, mit langen Schals und aufregender Garderobe, und es wurde ihnen warm, den Anwesenden Abwesenden, denn Lottes Worte waren nicht kalt, sie waren verwoben, gestrickt zu einem Wortteppich, einem sanften unerbittlichen, den niemand mehr auseinanderreißen konnte. Die aufgerichtete Hinrichtung hatte einen Namen bekommen. Lotte.
     Lottes Worte hatten gesungen und gesprochen, die Luftharfen hatten zu schwingen begonnen, und das Summen schwoll an zu einem neuen Gesang. Aber die Anwesenden Abwesenden hörten ihn nicht.  
Sie haben keine Ohren, dachte Lotte. Sie tragen ihre Ohren nur aufgeklebt wie kleine Schüsseln. Als  Dekoration. Lotte spuckte verächtlich. Nicht im Stile eines richtigen Hasen, aufrecht und stolz.
Sie hatte ihre Worte wieder eingesammelt. Im ganzen Raum aus allen Ritzen ihre Worte wieder hervorgeholt, den schönen Teppich wieder aufgezogen und zurück gesteckt in ihr Versteck. Eingesogen, geschlürft, tief hineingeatmet in Lottes Wortschatz-Geheimnis. Unsichtbar. Meine Worte gehören mir, dachte Lotte. Meine Hasenworte sind mein Schatz. Ich will ihn hüten.
Lotte  war stolz auf ihre geheimen Worte. Sie waren ihre Kinder, die sie hegte und pflegte. Eine liebevolle Mutter war Lotte, besorgt und wachsam, dass ihr keines abhanden kam. Und nun war es doch geschehen. Ein kleines Wort, eins ihrer kleinen Kinderwörter war nicht mehr da.
Aufmerksam schaute sie ins Gras. Ohren wie du hätten sie haben müssen, murmelte sie, diese hasenfernen Lefzen.  Ohren zum Hören. Aber sie haben nur geklebte Schüsseln.
Sie bückte sich tief hinab. Komm, mein Hase, sagte Lotte. Wir legen uns nieder und lauschen. Gemeinsam werden wir es finden, mein Wort, mein kleines verlorenes Wort, meine Freiheit.