[2004-07-15] 
 

Die Farbe der Freiheit


Ich hüpfte, als hätten sie mich auf eine Springfeder gespannt, durch die Friedhofskapelle. Bisschen kahl hier, dachte ich. Die Wände atmen so viel Traurigkeit und fühlen sich so feucht an, als enthielten sie die Tränen all derer, die hier je um ihre Toten geweint haben. Es ist merkwürdig. In so ner Umgebung krabbelt dir die Kälte in die Nase, und sofort meinst du, du müsstest das Taschentuch rausholen und dich schnäuzen. In Wirklichkeit laufen dir die Tränen aus den Augen und suchen ihren Weg in die Wände. Sehr sehr merkwürdig. Man müsste mal ne Doktorarbeit darüber schreiben.
Vorne war so was wie ein Podium. Ziemlich nackt. Wenn reiche Leute sterben, siehst du das Podium nicht mehr, weil es über und über vollgepackt ist mit Blumenschmuck und Kränzen. Bei armen Leuten bleibt das Podium fast so öd und leer, wie es jetzt aussieht. Sogar im Tod bleibst du arm. Na ja, in deiner Kiste ist dir das wahrscheinlich ziemlich egal. Und die paar Leute, die deinetwegen gekommen sind, machen sich nichts draus. Sie sind die Armut so gewöhnt, dass sie sie gar nicht mehr wahrnehmen.
In der Mitte des Podiums ist ein Elektroverteiler. Für das Mikrofon und die Lautsprecher, falls so etwas gewünscht wird. Wenn die Kapelle nämlich voll ist, reicht des Pastors Stimme nicht mehr bis ganz hinten. Und er soll doch auch für die Trost spenden, die ganz hinten an der Tür rumlungern. Es macht ihm nichts aus, dass sie da hinten bleiben, um schnellstmöglich wieder abhauen zu können. Trost hat er auch für die Feigen und die Eiligen. Der katholische Pfarrer nimmt übrigens nie ein Mikro. Der hat ne Stimme wie Donner und Blitz und die ganze Feuerwehr zusammen. Das weiß er auch und spielt damit. Manchmal kitzelt er die armen Trauernden nur vorsichtig, manchmal donnert er sich aber auch zu halber Gottesgröße hoch und mahnt und klagt, dass der Mensch nur vorübergehend hier auf Erden sei und sich rechtzeitig auf sein himmlisches Dasein vorbereiten solle. Und dann guckt er unter seinen buschigen Augenbrauen vor und macht auf Dämon und furchterregend. Bei den kleinen Kindern und den alten Frauen funktioniert das immer. Maik und ich grinsten uns dann immer eins und hätten nie im Leben zugegeben, dass uns trotzdem ein bisschen mulmig war in unserm Pelz.
Maik. Wo war er eigentlich? Zuletzt hatte ich ihn gesehen, als er mit seiner niegelnagelneuen Kawasaki zum Schrebergarten meiner Eltern gebrummt kam. Ich hatte grade eine dösiges Mittagsschläfchen in der Sonne gehalten und von der großen Freiheit geträumt, die ich eines Tages haben würde, wenn ich endlich die Schule hinter mich gebracht hätte. In dem Traum hatte sich eine Biene verfangen, oder viel mehr ein ganzer Bienenschwarm, der immer näher kam und lauter wurde und mich plötzlich mit einem wütenden Gebell aufweckte. Ich schüttelte mein schlaftrunkenes Haupt erschreckt aus dem Kissen und blinzelte, um den vermeintlichen Hund zu entdecken.
He, Hein, du fauler Sack. Komm raus. Wir machen ne Spritztour.
Soviel war klar: Hunde können nicht sprechen,. Also war das wohl doch eher Maiks Stimme.
Ich also hoch und.... woowwww! Sitzt doch dieser Kerl in ner schwarzen Motorradkluft auf ner grünen Ninja ZX-10R! Ich konnte es nicht fassen! Mein Traum! Mein Mopped! Das Ultimum, was ich mir vorstellen konnte. Ne Ninja! Ich weiß nicht, was ich alles getan hätte, um so ne Kawa zu kriegen.


Ich japste nach Luft und hievte mich mit Lichtgeschwindigkeit aus meinem durchgeschwitzten Liegestuhl. Maik hatte seinen schwarzen Schutzhelm abgenommen und grinste mich triumphierend an.
Nee, frag nicht. Iss nicht meine. Nur mal schnell ausgeliehen von meinem Onkel.
Onkel? Seit wann hatte Maik nen Onkel? Und noch dazu einen, der so eine Maschine besaß?! Bevor mir die Zweifel über die Ohren wuchsen, hatte Maik schon eine einladende Armbewegung gemacht.  Komm, du lahme Krücke. Wir machen eine Spritztour.
Hinten in meinem allerhintersten Hinterkopf warnte mich ein klitzekleines Stimmchen, aber ich zappte es mit der gleichen Geschwindigkeit weg wie abends das Bildungsprogramm von 3sat.
Ich schlich um das Motorrad herum und konnte meinen Mund nicht mehr zukriegen. So ähnlich hatte ich mich früher an Weihnachten gefühlt, wenn der Weihnachtsmann vor mir stand. Fehlte bloß noch, dass ich jetzt ein Gedicht aufsagte!
Solang ich denken konnte, hatten Maik und ich für Motorräder geschwärmt. Genau genommen war diese Leidenschaft das Einzige, was uns verband. Männerfreundschaft halt. Sozusagen.
Meine Eltern waren, fragt mich nicht warum, überhaupt nicht meiner Meinung. Es gäbe durchaus was anderes als Motorräder, und Maik sei sowieso nicht der richtige Umgang für mich.
   Es glaubt ja keiner, wie schnell man seine Ohren auf Durchzug stellen kann, wenn sie einem mit so einem Gesülze kommen. Maik war schon in Ordnung. Bloß, weil einer die Schule geschmissen hat, ist er doch noch kein schlechter Mensch, oder?
Und nun stand der Teufelskerl neben diesem grünen Ninja-Traum und grinste mich triumphierend an. Sah sehr neu aus, die Ninja.  Kein Kratzer am Lack. Kein Stäubchen auf den verchromten Teilen. Gradwegs vom Himmel auf die Erde gefallen. Direkt vor meine Füße, respektive Gartentür. Ehrfürchtig fuhr ich mit den Fingern über die glatte Oberfläche des fetten Auspufftopfs. Aus diesem Teil kam jener gigantische Sound, der für mich klang wie eine Mischung aus Engelsgeflüster und Dämonengesang. Bisschen übertrieben für ’n Motorrad? Egal. Für mich war’s so.
Maik stand breitbeinig da, und seine drei Brusthaare quollen vor Stolz aus der halb geöffneten Leder-Kluft. 128 KaWe sagte er beiläufig. Ich brauchte nicht den Bruchteil einer Sekunde, um das in 175 PS umzurechnen. Mein Mathelehrer wäre vom Glauben abgefallen, wenn er das erlebt hätte! Ein-Liter-Maschine, elektronische Einspritzung.... Ich war einer Ohnmacht nahe.
Frag ihn, woher er das Ding hat. Diese kleine Stimmen-Hummel in meinem Hinterkopf war immer noch da. Ich räusperte mich.
Maik ließ mich nicht zu Wort kommen.
Na, was iss? Kommste nu mit, oder nich?
Ein allerletzter Versuch der Stimme, bevor sie sich endgültig ins Nirwana verabschiedete: Du hast keinen Helm!
Ich hab doch keinen Helm, wandte ich lahm ein.
Maik rollte die Augen gen Himmel, als wenn er sagen wollte: Herr, warum hast du solche Dumpfbacken auf die Welt kommen lassen und spuckte vorwurfsvoll in den Sand.
Hier, nimm meinen. Ich fahr ohne. Wird schon keiner kontrollieren.
Er schob mir den Helm über den Kopf, noch bevor ich piep sagen konnte, und zwei Sekunden später hatte ich auch schon vergessen, was ich hatte sagen wollen, denn Maik ließ die Maschine an. Einen schöneren Klang konnte ich mir nicht vorstellen. Dafür würde ich jede Stereo-Dolby-Surround-Beschallung im Kino mit all meinen Lieblingsfilmen inklusive verschenken. Das Brummen der Maschine übertrug sich nahtlos auf alle meine Körper-Innereien, und wummerte aus den Poren wieder raus. Das Motorrad vibrierte mit mir um die Wette, als Maik auf die Landstraße bog und den Speed aufdrehte. Ein Orgasmus ist ein flüchtiges Feder-Pupsen gegen den Dauer-Ausstoß von Adrenalin, der sich bei diesem Himmelsritt Kilo- und Literweise in mein Hirn, und von dort aus in so ziemlich alle anderen Körperregionen ergoss.  
Der Orchesterklang aus Motorengeräusch und Fahrtwind zusammen versetzte mich geradewegs  ins Paradies. So wollte ich weiterfahren, bis ans Ende der Welt.
Ich wollte wissen, ob Maik genauso fühlte und beugte mich, auf der Suche nach seinem Ohr, nach vorne. Das war bei Maik  nicht ganz einfach, denn er hatte eine meterlange Mähne, und die flatterte mir um meinen behelmten Kopf, so dass ich Mühe hatte, überhaupt irgendwas zu sehen.  Bei dem Versuch, Maiks Ohrmuschel zu erwischen, riss ich deshalb wahrscheinlich ein wenig zu heftig an seinen Haaren. Ein wütender Aufschrei folgte und eine Salve von Ausdrücken, die ich hier lieber nicht wiederhole. Maik war in seiner Wortwahl nie zimperlich.
Für eine Weile konzentrierte ich mich wieder auf die Fahrt und meine Lust und überlegte, ob ich je in meinem Leben schon mal was Ähnliches gefühlt hatte.
Die Achterbahn fiel mir ein. Im Urlaub. Im Freizeitpark. Irgendwo in Frankreich. Wir waren eine Clique und zelteten  ganz in der Nähe. Wir konnten das Riesending schon von weitem sehen, und manchmal hörten wir das wilde Geschrei der Menschen, die dort kopfüber bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100km scheinbar dem Untergang entgegenrasten und sicher waren, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Ich hatte mich nur ein einziges Mal mit den anderen stundenlang in die Schlange gestellt, um so einen Höllenritt mitzumachen, und dann war ich süchtig. Die anderen hatten alle gereihert wie die Bekloppten, nur ich konnte nicht genug kriegen. Ich erlaubte dem Sohn des Achterbahn-Besitzers, sich an meine Freundin ranzumachen. Dafür kriegte ich einen Erlaubnis-Schein, mit dem ich an jeder Schlange vorbei nach vorne marschieren und einsteigen konnte, wann immer es mir beliebte. Und es beliebte mir oft, um nicht zu sagen, fast ununterbrochen. Irgendwie krankhaft, meinten die anderen, aber das interessierte mich einen Furz.  Die Fahrten gaben mir einen Kick, den mir keine  Frau dieser Welt bereiten könnte, davon war ich überzeugt. Meine Freundin eher weniger, was mich, ehrlich gesagt, nicht sehr überraschte. Ich habe sie nicht wieder gesehen. Aber das war mir in diesem Moment egal. Genau genommen  später auch. Alles was mir von diesem Urlaub in Erinnerung blieb, war die Achterbahn. Wie ich die Hände hochgerissen hatte, wie die Wucht des Windes mir  die Luft nahm, wie ich geschrieen hatte und wie Lachen und Weinen und Glücklich- und Erschöpft Sein alles einfach durcheinander ging ... und einfach Eins war. Mehr davon,  dachte ich plötzlich. Mehr. Das ist das Leben.
Und ich riss die Arme hoch und jubelte und schrie wie damals und fiel Maik um den Hals und griff über ihn drüber und packte ihn am Arm und wollte mit ihm tanzen oder ihn doch wenigstens in meine Begeisterung reinziehen und ihn mitreißen. Maik wollte aber nicht gerissen werden und versuchte, mich abzuschütteln, aber dann konnte er die Spur nicht mehr halten, verlor die Kontrolle über die Maschine, und wir begannen zu fliegen.

In der Friedhofskapelle wurde es lebendig. Stimmen wisperten um mich herum, erfüllt von kleinen fernen Klagelauten und großen verzweifelten Seufzern. Nicht so ganz nach meinem Geschmack, aber mich fragt ja sowieso nie einer.  
Das Podest füllte sich mit Blumen und Kränzen und Gestecken. Also doch ne reiche Beerdigung. Hübsch. Schön bunt. Fast wie die Schrebergarten-Sommerwiesen-Idylle meiner Eltern. Aber hier drin war kein Sommer. Hier herrschte die immerwährende Jahreszeit des Todes, und die Sonne verbarg sich im Schatten der Ewigkeit. Ein paar ernst guckende Männer trugen große Lautsprecher rein. Aha. Evangelisch.
Vielleicht hatten sie aber auch echte Live-Musik bestellt. Obwohl. Bei näherer Überlegung gibt das wenig Sinn, denn so ne richtige Musik fetzt in der kleinen Kapelle auch ohne Lautsprecher. Wahrscheinlich hatten sie wieder mal bloß einen verkümmerten Kammersänger engagiert, dessen zweitklassiges Organ die Würde dieses Hauses nicht angemessen füllen konnte. Solchen Typen muss man halt mit der Technik ein bisschen aufs Pferd helfen. Ich hätte ja ne Klasse-Pop-Gruppe genommen. Freunde von Maik hatten ne Band. Die wär das Richtige gewesen.


Die Räder des zerknitterten Grashüpfers drehten sich völlig unnötig in der Luft. Ich guckte mich ratlos um. Wuselige Geschäftigkeit umgab mich, aber niemand nahm Notiz von mir. Jungs, wenn Ihr was sucht: hier bin ich. Aber irgendjemand hatte den Ton abgedreht, und sie hörten mich nicht, oder diese Ignoranten stellten sich einfach taub. Ich war wohl in einem schlechten Film! In einem sehr schlechten offenbar! Soundcheck, bitte!
Jetzt stellten sich alle im Kreis auf und schüttelten ihre Häupter. Sie beguckten eine verrenkte Puppe, die vor ihnen auf dem Boden lag. Was wollten sie bloß von der?! Die sah doch so verdammt Scheiße aus. So abgeknickt und mit total verrutschten Proportionen. Wenn sie schon so dumm rumstanden, könnte ja mal jemand freundlicherweise Hand anlegen, und ihre Glieder wieder in die richtige Position rücken. Man konnte sie doch nicht einfach so unordentlich dort rumliegen lassen!  
Offenbar hatten sie mich jetzt endlich gehört. Zwei rot-weiße Tanzbärchen kamen und legten die Puppe auf eine Trage. Na also! Geht doch! Ich sah ihnen nach, wie sie mit ihrer Fracht abzogen und war zufrieden. Die Vorstellung konnte beginnen.
Ich hatte recht behalten. Es war der verkümmerte Kammersänger. Er saß vermickert in der Ecke und guckte seine Noten noch einmal an, als die Tür aufging und ein Sarg auf das Podest gerollt wurde. War ein bisschen schwierig, weil die vielen Blumen im Weg waren, aber die Typen in den schwarzen Anzügen waren offenbar keine Anfänger und legten einen gemäßigt eleganten, aber  pietätvollen Slalom hin. Als sie den Sarg ordentlich platziert hatten, nahmen sie ihre Mützen ab und verneigten sich. Ich gebe zu: es gefiel mir. Es hatte so was Feierliches, dass es mich ganz kurz im Hals würgte. In der Kapelle plätscherte es und rauschte, weil es den Anwesenden wahrscheinlich so ähnlich ging wie mir. Ich hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht,  da hörte ich ne Menge brunnentiefe Schluchzer und einen verzweifelten Aufschrei. Und ganz vorne sah ich, wie meine Eltern und Maiks Eltern sich in die Arme fielen.
Das konnte ich nun gar nicht verstehen. Die hatten sich doch sonst höchstens mit dem Hintern angeguckt!  Noch während ich grübelte, kam der Pfarrer. Der Katholische. Ohne Mikro. Majestätisch. Heute hatte er sein Gottes-Wege-sind-unerforschlich- Gesicht aufgesetzt und guckte so milde unter seinen Augenbrauen hervor, dass es mir so mulmig wurde wie noch nie. Er sprach ein Gebet, und das dauerte ziemlich lang.
Ich schaute mir inzwischen das Blumenmeer–Podium ein bisschen genauer an. Es gab eine Menge von Grünpflanzen da vorne und bunten Schmuck und Schleifen dazwischen, auf denen was geschrieben stand. Aber das konnte ich auf die Entfernung nicht lesen. Deshalb versuchte ich ein bisschen mehr von oben runter zu gucken... Und dann sah ich sie! Die Ninja! Perfekt getarnt unter dem Grünzeug. Irgendjemand hatte sie wieder hergerichtet und poliert. Sie sah aus wie neu. Und je länger ich sie ansah, um so lebendiger wurde sie. Und da war doch?!! Na klar!! Das war er! Maik! So eine Rapunzel-Mähne hatte nur einer. Er guckte nach hinten und grinste dreckig.
Der Kammersänger intonierte eine Arie.
Maik verdrehte die Augen und startete die Maschine. Was für ein Himmelsgesang. Ich machte einen Satz und sprang auf den Rücksitz.
Ich spürte den Fahrtwind und die Freiheit und das Glück und flüsterte:  Geh nicht ohne mich, Maik. Nimm mich mit, Maik, nimm mich mit.