[2007-02-25] 
 

Alles is(s)t Leberwurst


Kleine Vorrede
Die Einladung kam von ganz oben. Bekannte kannten den Gourmet-Papst der Region und waren von ihm für würdig befunden worden, von ihm bedient zu werden. Der Restaurant-Tempel war für seinen individuellen Service und die aufregendsten Speise-Kreationen bekannt. Wer sich auskannte, verneigte sich unwillkürlich, wenn der Name des Restaurants und seines Führers erwähnt wurden.
Ich fühlte mich geehrt.
Ende der Vorrede

Zur Hauptsache
Als Vorspeise bestellte ich eine Scheibe Weißwein und ein Glas Leberwurstbrot. Leberwurst galt seit einiger Zeit als eine Top-Delikatesse, die auf keiner feinen Speisekarte fehlen durfte. Ich hatte Leberwurst zwar immer gerne gegessen, aber eher den Eindruck gehabt, es handele sich um eine deftige, kräftige Hausmannskost ohne besondere Feinschmecker-Attribute, aber ich war bereit, dazu zu lernen, denn nur wer mitreden kann, gehört dazu.
Der Weißwein kam in ansprechender Form, tief gefroren, garniert mit einer kleinen Handsäge und einer Miniatur-Spitzhacke. Nicht besonders augenfreundlich in rot und grün. Ich bin nämlich rot-grün-blind, und wie sollte ich die beiden Werkzeuge nun auseinander halten? Aber ich bin ein gutmütiger Mensch, der die Gourmet-Kunst nicht auf die Probe stellen will, das steht mir ja nicht zu, und der vor allem ein Herz für das unterbezahlte Personal hat. Solch missglückte Farbwahl könnte ein Grund für einen Rausschmiss sein, und wie jeder weiß, gibt es heutzutage die Jobs nicht mehr wie Sand am Meer, schon gar nicht in der Luxus-Küche, die mangels Kundenmasse vom Aussterben bedroht ist. Ohne weitere Gedanken mit solch tief greifenden Sinnfragen zu verschwenden, haute ich die Hacke in den Wein und sägte ein kleines Stück ab, gerade groß genug, dass ich es mit einem Happs in den Mund stecken konnte, wo ich auf die wohltuende Wirkung zerlaufender Flüssigkeit wartete, nachdem mir das kalte Stück im ersten Augenblick die Tränen der Kälte in die Augen getrieben hatte. Erleichtert vermerkte ich nach einer Weile, dass der Wein endgültig seine ursprüngliche Konsistenz wieder gewonnen hatte und ich ihn runterschlucken konnte. Wie er schmeckte, kann ich leider nicht sagen. Das Gefriererlebnis hatte mir die Sinne etwas derangiert.
Das Leberwurstbrot kam in einem edlen Weinglas, was ich angesichts des begleitenden Weins sehr passend fand. Allerdings durchschoss mich für einen kurzen Moment der Gedanke, ob die Wahl einer Bierscheibe nicht die bessere gewesen wäre, denn dann wäre das Leberwurstbrot bestimmt passender  Weise in einem Bierhumpen serviert worden, was mir die Vereinahmung des Brots höchstwahrscheinlich erleichtert hätte. Es ist nämlich nur mit einer gewissen Kunstfertigkeit möglich, ein deftiges Leberwurstbrot aus einem zarten Weinglas heraus zu essen, ohne das Behältnis zu zerstören, und vor allem, ohne zu krümeln und zu kleckern. Ich saß etwas ratlos vor meinem Gericht und beschäftigte mich stattdessen lieber wieder mit der Weinscheibe. Sie hatte ihre ursprüngliche Form schon ein wenig verloren, denn im Restaurant war es warm, wodurch der Vorgang des Auftauens drastisch beschleunigt wurde. Die Scheibe lag nun in ihrem eigenen Saft, was hübsch aussah, denn die geronnene Flüssigkeit hatte eine leicht andere Farbe als die geeiste Fassung, was mich allerdings nicht wirklich erfreute, denn wie sollte ich nun meine Säge und die Hacke ansetzen, ohne den Tisch und vielleicht sogar die Umsitzenden in die Gefahr zu bringen, von herumspritzenden Weintropfen benässt zu werden?! Das Glas – die Lösung! Ich würde den aufgetauten Wein in das Glas schütten, wenn niemand auf mich achtete. Vorsichtig schaute ich mich um. Alle schienen in wichtige Gespräche vertieft zu sein. Ich konnte es wagen. Mir brach der Schweiß aus ob dieser gourmettechnischen Todsünde, aber manchmal wachse ich heldenmütig über mich selber hinaus, wenn es die Situation erfordert. Nachdem die Sauce im Glas war, beschloss ich, zunächst den Rest der Weinscheibe zu verzehren, um nicht ein weiteres Mal in eine solch unwürdige Situation zu geraten und dieses Mal vielleicht sogar  beobachtet zu werden. Dies war eine solch ungeheuerliche Vorstellung, dass mir ganz elend  wurde, achtete ich doch immer darauf, mich in allen Lebenslagen korrekt und angepasst zu verhalten.
Die Scheibe war schneller als erwartet verzehrt. Nach einer Weile hatte ich mich an die gefrorenen Stücke gewöhnt, spürte fast nichts mehr von der Kälte und hielt den Wein für angenehm temperiert. Ein Lob der Küche. So sollte es sein. Nur beim Eintreten dieses Effekts auf den Gast hatte der Weinmeister gute Arbeit getan.
  Das Leberwurstbrot im Weinglas war inzwischen von meiner Weinschütte gut durchgeweicht. Um ehrlich zu sein, sah es nicht mehr besonders lecker aus. Aber ich behielt die Contenance, denn ich weiß ja schließlich, wie man sich in der feinen Welt benimmt. Und ich tröstete mich damit, dass auf diese Art und Weise das Herauslöffeln aus dem Glas deutlich besser gelingen würde als  im ursprünglichen Zustand. In diesem Augenblick fiel mir auf, dass es an jeglichem Besteck mangelte. Irritiert schaute ich mich um. Wie aßen denn die anderen dieses Wurstbrot aus dem Glas? Leider war ich der Einzige, der sich für diese Vorspeise entschieden hatte, was ich inzwischen zu bedauern begann.
Da fiel mein Blick auf die Spitzhacke. Hatte sie nicht eine löffelförmige Ausbuchtung an ihrem Ende? Ein freudiger Hoffnungsschimmer durchfuhr mich, als ich, quasi als Pendant zum Löffel, am Sägen-Ende ein paar Zinken entdeckte, die einer Gabel glichen. Ich war gerettet. Oder? Aß man dieses Leberwurstbrot denn nun mit dem Löffel oder der Gabel, oder mit beiden Werkzeugen? Und gehörte nicht auch ein Messer zu dem Set? Ich war nun sehr verunsichert, bis mir auffiel, dass die Säge ja von Natur aus wie ein Messer funktionierte. Ich musste mich beeilen, denn am Geraune um mich herum stellte ich fest, dass der Vorspeisen-Verzehr allmählich zu Ende gebracht werden musste, damit mit dem Hauptgericht begonnen werden konnte. Ich holte tief Luft, nahm die Spitzhacke am verkehrten Ende in die Hand, packte aber so ungeschickt zu, dass ich mir auf der Stelle eine tiefe Wunde in den Handballen stieß, was mir zum zweiten Mal an diesem Abend die Tränen in die Augen trieb und die Luft nahm. Ich biss die Zähne zusammen und hieb das Löffel-Ende der Spitzhacke in das Glas, während das Blut aus meinem Handballen an dem Gerät herunter lief und im Leberwurstbrotbrei verschwand. Mir wurde ein bisschen übel. Ob wegen des Schmerzes oder wegen der nun äußerst unappetitlichen Färbung meiner Glasspeise weiß ich nicht so genau. Ich versuchte jedenfalls, tief und ruhig zu atmen, legte die Spitzhacke zunächst einmal wieder zur Seite und presste unter dem Tisch eine Serviette auf meine verletzte Hand, bis ich dachte, dass der Blutstrom beendet sein könnte. Vorsichtig schaute ich auf den blutdurchtränkten Stoff. Das sah nicht nach einer überzeugenden Verbesserung meines Zustandes aus. Inzwischen hatte ich aber instinktiv eine wirksame Technik entwickelt, wie ich durch das Formen einer Faust bei gleichzeitigem Druck der Finger auf die Wunde sowohl das Blut stillen als auch meinen Schmerz lindern oder zumindest unterdrücken konnte.
Während des ganzen Vorgangs schaute mich das Leberwurstglas beleidigt an. Ich musste noch einer Pflicht genügen! Tränenden Auges, schmerzgebeutelt, aber aufrecht wie ein Soldat griff ich beherzt zur Gabel, um das Glas endlich von seinem Inhalt zu befreien. Ob sich im Folgenden mein inneres Ego gegen die Speise wehren wollte, ob mich der Schmerz und der Blutverlust in meiner Wahrnehmungsfähigkeit geschwächt hatten und meine Zielfähigkeit beeinträchtigten, oder ob  ich durch die ganze unerfreuliche Situation einfach das Prinzip von Messer und Gabel vergessen hatte – ich weiß es nicht. Jedenfalls griff ich entschlossen und beherzt zu, bekam die Säge am Sägeblatt zu fassen, hatte im nächsten Augenblick ein paar Sehnen meiner bis dato noch gesunden Hand durchtrennt, schrie vor Schmerz auf und kippte vom Stuhl, nicht ohne das Tischtuch mitzureißen, an dem ich mich festhalten wollte. Es gab einen Moment der allgemeinen Schreckensstarre um mich herum, die immerhin lang genug war, dass ich laut und deutlich ein kleines ‚pling’ vernehmen konnte.  Es war das Weinglas, das auf meine Stirn zerschellte, wodurch das  Leberwurstbrot (in unvorhergesehener Breiform) endlich seinen vorgesehenen Weg fand und in meinen aufgerissenen Mund landete.  


Kleine Schlussrede
Da ich als Nächstes halb erstickt in Ohnmacht fiel, kann ich leider nicht mehr berichten, ob die Speisen-Kreation geschmeckt hat und einer Gourmet-Küche würdig war. Der Küchenchef war jedenfalls sehr zufrieden, denn sein Bild erschien am nächsten Tag in der Zeitung. Leberwurstbrot im Glas ist jetzt der neueste Renner bei allen Feinschmeckern. Ich Würstchen allerdings darf mich in diesen Kreisen nicht mehr sehen lassen. Wer keine Tischmanieren hat, hat auch keine Leberwurst verdient!
Ende der Leberwurst