[2005-05-16] 
 

Schubladen-Erinnerung


Da waren noch die Schubladen, du erinnerst dich.
Die bunte und die braune. In der braunen war das Schuhzeug, in der bunten Mutters Allerlei, das wir nie sehen durften. Immer wenn wir uns der bunten näherten, gab es eine unsichtbare silberne Stahlnadel, die sich unmittelbar vor uns in den Boden rammte und den Durchgang versperrte.  Die Nadel war zu unserer dauernden Angst, aber auch zu unserer Herausforderung geworden. Wir versuchten es immer wieder und von allen Seiten, aber diese verdammte Nadel war immer schneller als wir. Ich hasste sie, wie sie sich vibrierend vor uns aufbaute und so tat, als wäre sie Gott persönlich. Wo sie herkam, wussten wir nicht. Mama konnten wir nicht fragen. Dann hätte sie gemerkt, dass wir an die bunte Schublade wollten, was ja streng verboten war.

Du Liebster einer Nacht.
Komm im Dunkeln wieder.
Für die Lieder
die ich für dich gemacht.

Mama hütete ihren Schatz mit unbeugsamem Wolfswillen und adlermäßigen Augen. Sie wusste, dass ihre Buntheit begehrt war. Aber wer sie begehren durfte, bestimmte nur sie allein. Also schaute sie von oben herab auf unsere Kinderwünsche und hob die Augenbrauen, wann immer wir auf der Stelle trippelten, als ob wir aufs Klo müssten. Von der braunen Schublade hielten wir mit Abscheu Abstand. Sie stank und hatte eine heimliche Aura um sich, die kein Netz brauchte, um uns blind zu machen.

Du Liebster einer Nacht
Ich halte dich verborgen
bis zum frühen Morgen.

Täglich und immer wieder mussten wir unsere Berechtigung beweisen, und wir taten es mit der Inbrunst der immerwährenden Verlierer. Ein Kind gegen eine Schublade. Der Kampf war entschieden, egal, ob braun oder bunt.
Manchmal lächelte die Mama. Sie erfreute sich an unserer Angst und der Scheu, mit der wir uns ihr näherten. Sie hatte die Macht. Ihr gehörte die bunte Schublade. Uns gehörte nichts außer der tänzelnden Stahlnadel.

Du Liebster einer Nacht.
Ich habe dich vergessen
wenn der Tag erwacht.