[2005-02-13] 
 

Große Dreckhaufen


Damals, als ich aufgestanden bin, um dir in die Fresse zu schlagen und mich wieder hingesetzt habe, weil ich mich so schwach fühlte, habe ich einen Fehler gemacht, den ich als Fehler meines Lebens bezeichnen würde, hätte ich nicht später noch viel blödere Fehler gemacht, die mich als ausgesprochenen Schwachkopf entlarvten und mich letztlich ins Gefängnis brachten, obwohl ich dir noch nicht einmal in die Fresse geschlagen hatte, was mir zu diesem Zeitpunkt ganz besonders leid tat, denn du hast mir die Arschkarte noch einmal verpasst, obwohl ich gedacht hatte, ich würde nicht mehr drauf reinfallen.
Ich brüte nun still vor mich hin und schreibe eine Petition nach der anderen, um dem Gericht zu beweisen, dass ich zwar ein kleiner Verbrecher bin, aber nur ein ganz kleiner, du jedoch der große Dreckhaufen, der draußen frei herum laufen darf und mir gezeigt hat, dass immer nur der siegt, der die Fresse aufreißt und sich wichtig macht, indem er die Bizeps spannt und das Hemd über der Brust, bis es reißt, weil Kraft ja ein Kennzeichen haben muss, das meist eher mit Muskeln bepackt ist als mit Geistvollem, von dem du ohnehin nur denkst, das hätte was mit Alkohol zu tun und sei vor allem deshalb was Besonderes.
Der Richter zog erst die eine Augenbraue hoch, dann die andere, denn kleine Verbrecher rügt der erfahrene Rechtsprecher milde mit einer ernsten Stirnfaltenbewegung, von der er glaubt, sie habe eine pädagogische Wirkung und würde den Gefangenenstand früher oder später verringern, was wiederum ihm zu mehr Freizeit und einer ungeahnten Freiheit verhelfen  würde, denn er könnte erstmals seit langen Urzeiten wieder seinen Hintern vom seinem Richtstuhl heben und ihn hinaustragen an die frische Luft und das dazu gehörige frische Leben, das er sich seit Amtsantritt erhofft und niemals wieder zu erleben glaubte, denn er war von Hause aus ein Pessimist und hatte den Richterberuf gewählt, weil er dort seinen Pessimismus weiterpflegen konnte.
Was er jedoch nicht bedachte, war, dass da draußen der große Dreckhaufen sein Wesen trieb und sich seines Lebens mit einem dauerhaft ungeschmälerten Optimismus erfreute, der sich darauf begründete, dass er kleinen Pessimisten-Würstchen gerne mal eins überbriet, denn schließlich musste er mit lauter Regelmäßigkeit seine Furchtlosigkeit beweisen und sich als der Platzhirsch in einem Gebiet aufspielen, das frühzeitig von allen anderen Hirschen geräumt worden war, weil es dort sowieso nichts zu sehen und zu erleben gab und die Hirschkühe sich lieber im Licht der Abwechslung aufhielten.
Den großen Dreckhaufen focht das nicht an, obwohl es in der letzten Zeit ein wenig langweilig geworden war, nachdem sogar kleine Verbrecher wie ich von dem milden Stirnrunzler weggeräumt worden waren und die Piste allmählich durch eine gähnende Leere glänzte, die selbst dem Optimismus eines großen Dreckhaufens einen Dämpfer verpasste, den dieser dumpf verspürte, von dem er aber nicht wusste, wie er ihn deuten sollte, denn Interpretationen waren noch nie seine Stärke gewesen, weshalb er auch in der Schule keinen Stich machen konnte, außer dem einen Mal, als er das Messer genommen hatte, woraufhin er  ohne die kleinste Interpretation in die freie Wildbahn geschickt worden war.
Der Pessimisten-Richter trat also nach meiner erfolgreichen Verurteilung vor die große wuchtig-wichtige Eichentür des Gerichtsgebäudes, das nun schon so viele Jahre seine Heimat war und wagte einen vorsichtigen Blick in die grelle Leere des Vorplatzes, der aussah, als hätten ihn die Bürger frisch gefegt, oder als hätte ein Regenschauer ihn erst kürzlich in eine nahezu klinisch staubfreie Wüstenei verwandelt, in der noch nicht einmal ein klitzekleines Krabbelinsekt mehr seine Freude am Leben gehabt hätte, geschweige denn ein großer Richtermensch auf der Suche nach einem Häppchen von Optimismus und Lebensfreude, die ihn in die Lage versetzen würden, statt der Stirnrunzelei eine gewisse Mundwinkelgymnastik zu erproben, von der er gehört hatte, sie würde zu einem Lächeln führen, welches wiederum nicht nur den Gesichtsmuskeln, sondern auch dem Seelenkostüm förderlich wären, wobei wir nicht verhehlen dürfen, dass der Richter den Begriff Seele nicht recht einzuordnen wusste, denn in seinen Richterbüchern kam dieser nicht vor, und er hielt ihn eher für die Erfindung von jenen Schreiberlingen, die der brotlosen Kunst frönten und Menschen wie ihm die Zeit stahlen, indem sie so taten, als würde ihr Geschreibe die Menschen auch nur einen Deut weiterbringen, wo doch jedermann wusste, dass die Einhaltung von geschriebenem Recht und Ordnung dem Menschen weit dienlicher ist als die Beschäftigung mit jenen ziel- und nutzlos aneinander gereihten Buchstaben, die in der Schule zu dem vielfältig verbreiteten Unsinn von Interpretationen führten, deren Benotung der Willkür eines verkniffenen Lehrkörpers unterliegt, jedoch nicht der objektiven Wahrheitsfindung dient.
Der große Dreckhaufen stand jenseits des leeren Platzes und schaute mit den ihm eigenen verlangsamten Bewegungen in verschiedene Richtungen, von denen er nicht wissen wollte, ob es sich um rechts oder links handelte, denn er hatte von solchen Unwichtigkeiten ohnehin die Nase voll und fragte sich manchmal, welchen Vorteil die Menschen davon hätten, ob etwas rechts oder links heißt, wo doch nur wichtig war, dass die Richtung, um die es ging, ausschließlich von ihm vorgegeben wurde und insofern deren Benennung völlig unerheblich war, denn welche Richtung eingeschlagen werden musste, konnte jeder sehen, wenn er seine große schwere Hand hob und zeigte, wo es lang ging.
Bei genauer und objektiver Betrachtungsweise unterschied sich der große Dreckhaufen eigentlich nur wenig von dem Stirnrunzler, denn jener hielt Recht und Ordnung für das Maß aller Dinge, die dem Menschen in seinem Fortkommen förderlich seien, und auch dieser hielt Recht und Ordnung für das Maß aller Dinge, mit dem kleinen marginalen Unterschied, dass er seine Gesetze selber machte, während dem Richter diese kreative Leistung dank seines Berufs verwehrt war, was möglicherweise zur Intensivierung seines chronischen Pessimismus geführt haben könnte.
Nach all diesen Abwägungen komme ich zu dem Schluss, dass ich klug beraten war, dem großen Dreckhaufen nicht in die Fresse zu hauen, denn nun zeigt sich, dass er die Freiheit genießt, die er verdient, denn er steht autonom und groß wie ein Hirsch auf der anderen Seite, um sein Reich zu beschauen, das außer ihm niemand betreten darf, was nirgends geschrieben steht, was man aber sehen kann, wenn man mit offenen Augen durchs Revier wandert.
Der Nachteil des Pessimismus ist, dass die Realität sich merkwürdig verzerrt darstellt und dem Träger des Pessimismus ein Bild vorgaukelt, das es in dieser Form gar nicht gibt, wobei wir uns die philosophische Frage ersparen können, was denn nun Realität überhaupt sei, denn für den Richter ist es die eine und für den großen Dreckhaufen die andere, und wir kriegen sie nicht deckungsgleich, egal wie wir uns anstrengen. So stolpert also der eine Träger von Wahrheit und Gerechtigkeit, von Gesetz und Ordnung dem anderen Träger von Wahrheit und Gerechtigkeit, von Gesetz und  Ordnung entgegen und denkt nicht daran, dass sein betrübtes Auge die Realität in einer Weise wahrnimmt, die mit der Realität seines Gegenübers wenig gemein hat, wobei das Wort ‚gemein’ in diesem Zusammenhang für den Richter plötzlich eine ungeahnte Dimension erhält, denn der Begriff –übrigens auch einer, der in seinen Büchern nicht vorkommt- wird mit einem Mal spürbar, setzt sich in Gestalt eines schieren Schmerzes in seine Lenden und schreit von dort aus sein Entsetzen in die leere Weite des Raumes.
Was folgt, ist schnell erzählt. Der Stirnrunzler wird durch einen anderen ersetzt. Der Hirsch   dreht sich um und nimmt wieder seinen Platz ein.  Ich schaue durch meine vergitterten Fenster und denke, dass ich dir vielleicht doch besser in die Fresse gehauen hätte. Große Dreckhaufen gibt es wahrhaftig genug.